Heft 4/2020 - Artscribe


Hito Steyerl – I Will Survive

26. September 2020 bis 10. Januar 2021
K21 – Kunstsammlung NRW / Düsseldorf

Text: Teresa Retzer


Düsseldorf. Hito Steyerls Medium ist die Realität; und zwar die physisch erlebte und medial erlebbare Realität, die in ihren Arbeiten ebenso wie in der Wirklichkeit zusammenfließen. Das K21 der Kunstsammlung NRW und das Centre Pompidou Paris nahmen sich dem anspruchsvollen Gesamtwerk der Autorin, Dokumentaristin, Filmemacherin und Künstlerin an und präsentierten 17 Werke der letzten 20 Jahre, die eines bewusst machen: Steyerls Arbeiten sind mehr als Kunst, es sind Zeitdokumente.
In ihren frühen semidokumentarischen Filmen November (2004) und Lovely Andrea (2008) präsentiert Steyerl historische Fakten als Fallbeispiele, die oft in keinem kulturellen oder zeitgeschichtlichen Verhältnis zu den Inhalten der Erzählung stehen, um zentrale gesellschaftsrelevante Fragestellungen zu erörtern.
Lovely Andrea versucht weder Wissen zu akkumulieren, noch verdeckte Fakten wie etwa in der Lecture-Performance Is the Museum a Battlefield (2012) offenzulegen. Die japanische Bondage-Kultur, die als Kunstform, Fetisch oder Mittel sexueller Befriedigung angesehen werden kann, wird anhand der Motive und Interessen einiger Angehöriger vorgestellt und die damit verbundenen Tätigkeiten werden wie ein konventioneller Beruf und eine Form des künstlerischen Ausdrucks zugleich behandelt. Im Ineinandergreifen der Ambiguität der Montage von Bildmaterial und Erzählstimme folgt Steyerl nicht der herkömmlichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sondern zeigt auf, dass jede Repräsentation des Wirklichen nur als Fiktionalisierung dieser vermittelbar ist und daher jede Wahrheit nur ein abstrakter Nachruf der Vergangenheit sein kann. In diesen Filmessays analysiert Steyerl die Symbolsprache der Fiktion und die Wahrheitsproduktion in der Dokumentation, der Berichterstattung und in der Kunst. Sie demaskiert die Schwachstellen verschiedener Repräsentationssysteme, ohne selbst „Wahrheit“ zu produzieren.
Einige der früheren Filmessays werden auf Leinwänden gezeigt, obgleich der kuratorische Fokus der Ausstellung deutlich auf den neueren pompösen und oftmals mehrkanaligen Filminstallationen liegt. HellYeahWeFuckDie (2016) wurde erstmals bei Skulptur Projekte Münster 2017 ausgestellt. Die großräumige Installation zeigt, dass die heutige Realität ohne durch Computer ermittelte Wahrscheinlichkeiten längst nicht mehr funktionieren könnte, und macht deutlich, dass sich viele Menschen über die Schlüsselstellung der Technik nicht bewusst sind.
Eines der prominentesten Werke ist die eigens für die Ausstellung produzierte Arbeit SocialSim (2020), in der Schauspieler Mark Waschke als Kommissar in pandemiebedingter Kurzarbeit auftritt. Viele kennen ihn aus dem Berliner Tatort oder aus Steyerls Installation Factory of the Sun, die 2015 im deutschen Pavillon in Venedig ausgestellt wurde. Waschke befindet sich in einem Motion Capture Studio, in dem seine Bewegungen aufgezeichnet und in Daten übersetzt werden. Seine Tanzbewegungen dienen der Programmierung wuttanzender Polizistenavatare, die sich bald an allen Wänden des gänzlich von Leinwänden ummantelten Raums versammeln. Das Tanzen spielt auf eine frühere netzkulturelle Bewegung an und richtet sich nach automatisierten Algorithmen, die mit Daten aus verschiedenen Bereichen gespeist werden: dem Anstieg von Corona-Infektionen, Drohnachrichten und Todesdrohungen, die an deutsche Polizeibeamte gerichtet werden, sowie gemeldeten Delikten mit nationalistischem Hintergrund. Die Tanzbewegungen verhalten sich quantitativ zu den gesammelten Datenmengen und beschleunigen sich schließlich so stark, dass sich die Avatare in Lichtstrahlen auflösen.
Der Titel der Arbeit bezieht sich auf soziale Simulationen, da die Sammlung von Daten in öffentlichen und privaten Räumen durch den Staatsapparat und die Wissenschaft längst zur Berechnung und Vorhersehung sozialer Phänomene dient. So werden Ausschreitungen innerhalb von Demonstrationen oder soziokulturelle Bedürfnisse kalkuliert, bevor diese überhaupt eintreffen. Die ZuschauerInnen befinden sich in einem Schaukasten aus Avataren, die sich tanzend auf diese zubewegen. Die Ästhetik der Installation simuliert einerseits computerisierte Überwachungsapparate und persifliert andererseits die machtlose Rolle der Einzelnen, die Teil dieses Wettlaufs oder Wuttanzes um die Bestimmungsmacht über die eigene Existenz werden.
Social Sim ist Fiktion, abstrahiert jedoch zugleich reale Vorgänge innerhalb des datenbasierten Kapitalismus, der sich nicht nur innerhalb der staatlichen Erfassung von Daten, sondern auch in unserer alltäglichen Benutzung des Internets niederschlägt. Unser individueller, digitaler Abdruck wird täglich ausgebaut, verändert und immer weiter verfeinert, sodass Computerprogramme unseren künftigen Bewegungen bereits einen Schritt voraus sind. Der Aufbau und die Ästhetik der Arbeit erinnert zudem stark an Videospiele, was noch deutlicher im Vergleich zu nicht ausgestellten Arbeiten wie Factory of the Sun oder The Tower (2016) zu sehen gewesen wäre.
In Mission Accomplished: Belanciege (2019) zeigen sich Parallelen in der Verwendung von Algorithmen innerhalb der personalisierten Werbung im Internet und politischer Schleichpropaganda wie jene, die sich zu den US-Wahlen 2017 oder auch während des Brexit-Referendums offenbart haben. Die Lecture-Performance von Giorgi Gagoshidze, Steyerl und Miloš Trakilović wurde am Neuen Berliner Kunstverein live übertragen und im K21 anstelle eines Rednerpults in die Mitte einer podiumsförmigen von blauen Teppichen überspannten Installation eingebettet. Die Drei-Kanal-Installation ist direkt an die Laufstegarchitektur, mit der die Luxusmarke Balenciaga ihre neue Kollektion auf der Pariser Fashion Week 2019 präsentiert hatte, angelehnt. Das spiralförmige Europäische Parlament in Straßburg war die Inspiration der Marke für die Pariser „Ausstellung“, die von KünstlerInnen umgesetzt worden war. Die Bühneninszenierung zeigt, dass sich die kreativen Köpfe hinter Balenciaga selbst ihrer zentralen Rolle in Politik, Kultur und Populismus bewusst sind. Seit vielen Jahren bedient sich Balenciaga an popkulturellen Trends, wie am Beispiel der allseits bekannten blauen Ikea-Tragetasche, die als ledernes Pendant für über 2.000 Euro vermarktet wurde, oder mit einer Kollektion, in der die Kleidung von Kriegsgeflüchteten in Postsowjetländern als Inspiration aufgegriffen worden war. In einer weiteren Kollektion verarbeitet die Marke das Wahlkampflogo von Bernie Sanders, wobei nie bekannt wurde, ob dieser Akt als Positionierung für Sanders oder als provokativer Kommentar des übersteigerten Populismus im US-Wahlkampf zu bewerten sei. Während sich Balenciaga an Alltagserscheinungen bedient, wird diese wiederum durch die Social-Media-Kanäle von Personen des öffentlichen Lebens wie Kim Kardashian, Melania Trump und dem ehemaligen Präsidenten Georgiens und autokratischen Machthaber Mikheil Saakashvili in die Öffentlichkeit zurückgespiegelt. Nicht nur Figuren aus der Popkultur folgen der Trendmarke, sondern auch PolitikerInnen, die dadurch Volksnähe kommunizieren möchten. Die eigentlichen Distributoren der Ware sind jedoch jene, die sich nur die zahlreichen Fake-Produkte leisten können, worauf der Titel der Arbeit auch anspielt. Die drei KünstlerInnen argumentieren, dass die Vermarktungs- und Branding-Strategien von Balenciaga paradigmatisch für die verstörenden aktuellen Produktionsverhältnisse stehen, die rein disruptive, auf kurzzeitige Trends aufbauende Wertsteigerungen darstellen.
Steyerls Werke sind Zeitdokumente, die nicht davor zurückschrecken, den paradoxen Umgang der Politik mit kollektiven Traumata mit apolitischen Neigungen der Popkultur zu vergleichen, oder gar popkulturellen Bewegungen die eigentliche gesellschaftsproduzierende Macht zusprechen.