Heft 1/2021 - Lektüre



Sofia Bempeza/Christoph Brunner/Katharina Hausladen/Ines Kleesattel/Ruth Sonderegger:

Polyphone Ästhetik. Eine kritische Situierung

Wien/Linz (transversal texts) 2019 , S. 75 , EUR 12

Text: Anna Bromley und Michael Fesca


Das Anliegen des Buchs, mit vielfältigen „ästhetischen Praktiken und Milieus polyphon in Resonanz“ zu treten, durchzieht die Texte wie eine „Hookline“. Den Kern bilden kritische Situierungen der westlichen philosophischen Ästhetik, die die kolonialen und weiteren Ausschlüsse des wirkmächtigen Begriffs in den Blick nehmen und ihn weiten. „Stellungskrieg, aber polyphon. Dirty“, sagt Sofia Bempeza über das theoriepolitische (Auf-)Begehren der AutorInnen: „[D]as ist auch ästhetische Theorie!“ Im kollektiven spekulativ-poetischen Text, der das Buch beschließt, hätten die Figuren gern mal geschrien, um einen Wirbel zu machen.
Einen Wirbel macht das Buch, indem die AutorInnen, die sich innerhalb der „akademische[n] Welt mit ihren Machtbeziehungen“ situieren, sezieren, ob/wo sie „von Kunst, ästhetischen oder aisthetischen Praktiken“ sprechen. Inmitten disziplinärer Verstrickungen in die Kolonialität suchen sie ein differenzsensibles Geschichtenerzählen. Mit dem Anspruch, „die angeblich Anderen […] tatsächlich selbst sprechen gelassen zu haben“, wächst allerdings auch die Gefahr des Ausschlusses, stellt Ruth Sonderegger fest. Dieses Paradox analysiert Sofia Bempeza am kulturhistorischen Narrativ der documenta 14. Dieses ließ die AthenerInnen erneut die Last der klassischen Antike spüren und bekräftigte einen westlichen Philhellenismus, der die Komplexität der griechischen Gegenwart und ihrer Anti-Austeritätsbewegungen verkannte. Mehr noch: Er setzte diese mit anderen Problemlagen gleich, etwa mit dem antidiktatorischen Widerstand im Griechenland der 1970er-Jahre oder mit indigenen Perspektiven.
Wenn mächtige ästhetische Theorieströme sich auf als radikal „anders“ behauptetes Wissen beziehen, warten oft ethische und politische Sackgassen des „Wie“ ihres Forschens. Versteht man mit Christoph Brunner Theorie auch als eine ästhetische Praxis, dann müssen Gesten, Akte und Sinnesweisen dekolonialisiert werden, damit Körper mit ihren Vermögen und Affekten experimentell in Resonanz kommen können. Aus solchen Prozessen des de-linking mit ihrem Sinn für Differenzen erwächst dann eine permanent situierende Produktion von Wissen und Empfindungen, die sich auf eine geteilten Erfahrungsebene gründet.
Ein elastischeres „Wie der Theorieproduktion“ fordert auch Katharina Hausladen. Sich auf Appropriationsstrukturen des Pop beziehend, geht sie davon aus, dass die popkulturelle Aneignung einer „politischen Awareness“ ihrer Zwecke bedarf und in weiterer Reflexion zu einem „performative[n] Entwurf antiholistischer Subjektivitäten“ führt. Analog dazu muss sich auch ein theoriepolitisches Engagement abkoppeln, und zwar von der Ideologie widerspruchsfreier Subjekte und „vorgeblich mit sich selbst identischen Disziplinen“. Schließlich, so argumentiert Hausladen, erwerben auch WissenschaftlerInnen ihre soziale Identität durch eine ästhetische Aneignung und Disziplinierung im Mantel der wissenschaftlichen Ausbildung.
Ästhetische Disziplinierungen situiert Ruth Sonderegger als Zivilisierungsunternehmen des westeuropäischen wohlhabenden Bürgertums im 18. Jahrhundert. Seine Implikationen lasten bis heute auf Körpern und Sinnen. Der Ausschluss der Ethik aus der Ästhetik ergibt sich dann aus jenen Subjektivierungsangeboten, die der disziplinierende Imperativ aka Ästhetik macht, nämlich der unerreichbaren Verkörperung eines sensus communis, dessen Superioritäts- und Ausschlussdenken die Geschmacksbildung permanent im Üben hält. Ines Kleesattel weist darauf hin, dass der sensus communis auf stereotypisierenden Projektionen und einem Reinheitsfetisch beruht. Ausgehend von translokalen, künstlerischen Verhandlungen von multidimensionalen (post-)kolonialen Verflechtungen konzipiert sie dirty knowledges, die sich „der Behauptung einer universellen Überblicksperspektive widersetzen“ und Definitionsmacht ebenso wie Privilegien teilen. Im Tandem unterziehen Christoph Brunner und Ines Kleesattel Bourriauds „Relationale Ästhetik“ einer postkolonial differenzierenden Revision. An einem Re-Reading eines seiner Kernbeispiele zeigen sie, dass die Präzision einer erdbezogenen Sorgfalt „für das Leise und Kleine, das Mannigfaltige und Besondere“ für die „ungleiche[n] Vermögen des Zuhörens, Ansprechbar-Seins und sorgetragenden Wahrnehmens“ sensibilisiert.
Polyphone Ästhetik speist sich nicht zuletzt aus einem kollektiven Hadern und Zaudern. Das Buch verbindet das spekulative Tasten mit analytischen Argumentationen und begleitet das achtsame Sortieren methodischer Werkzeugkisten. Dabei liegt auch das programmatische „polyphon“ in einer musikwissenschaftlichen „Kiste“ für „alte Musik“. Eine Historisierung des Attributs böte sicher weitere spannende Aufschlüsse. Im Vorwort lesen wir, dass das Buch sich als Anstoß einer Debatte versteht. Ungeduldig fragt eine Figur im abschließenden spekulativ-poetischen Text: „Könnten wir jetzt endlich über Ästhetik diskutieren, statt uns durch Gespenstergeschichten vom objektiven Geist und seiner Selbstgewissheit aufhalten zu lassen?“ Alright, zukünftige Gedanken und Bücher, wer macht den nächsten Aufschlag?!