Heft 2/2021 - Lektüre



Kathi Hofer:

„Grandma“ Prisbrey’s Bottle Village

Leipzig (Spector Books) 2021 , S. 72 , EUR 16

Text: Kathrin Heinrich


Am Anfang steht der Bleistift. Als Tressa Prisbrey in den 1920er-Jahren vom Gouverneur ihres Heimatstaats North Dakota ein Exemplar geschenkt bekommt, entspinnt sich daraus eine Leidenschaft, aus der bis 1956 eine Sammlung von rund 17.000 Stück gewachsen sein wird. In diesem Jahr ist die Tochter deutscher Immigrant*innen und Mutter von sieben Kindern bereits 60 Jahre alt und hat gerade mit ihrem zweiten Ehemann ein Stück Land im kalifornische Simi Valley erworben, auf dem die beiden ihren Wohnwagen parken. Prisbrey beschließt, endgültig sesshaft zu werden: Sie montiert kurzerhand die Räder ab und beginnt mit dem Bau eines Häuschens für ihre Bleistiftsammlung. Aus Geldmangel verwendet sie für das Pencil House jenes Material, das sich überall findet – leere Flaschen. Aus einem Haus werden viele; bereits vier Jahre später sind „Grandma“ Prisbrey und ihr „Bottle Village“ in der Gegend so bekannt, dass Prisbrey nicht nur beginnt, Eintritt zu verlangen, sondern auch die Geschichte ihres Dorfs aufzuschreiben.
Die Künstlerin Kathi Hofer hat sich „Grandma’s Bottle Village“ nun angenommen und den Text der selbst verlegten Broschüre erstmals ins Deutsche übertragen. Auch sie fand über den Bleistift zu Prisbrey – eine Ausstellung der Bleistiftassemblagen in der Los Angeles Public Library machte sie mit dem Werk der 1988 verstorbenen Künstlerin bekannt. Mit einem Vorwort Hofers versehen besticht der schmale Band „Grandma“ Prisbrey’s Bottle Village neben zahlreichen Abbildungen durch ein Faksimile der Broschüre, die Prisbrey Interessierten – vorzugsweise im Tausch gegen geschälte Walnüsse – zuschickte.
In Prisbreys Essay eröffnet sich das „Bottle Village“ als Wunderwelt des vermeintlich Wertlosen. Nicht nur Flaschen jeglicher Größe und Form verschmelzen zu farbig leuchtenden Mauern; so ziemlich alles, was „Grandma“ Prisbrey auf ihren täglichen Ausflügen zum örtlichen Schrottplatz in die Hände bekommt, verwandelt sie in Versatzstücke des riesigen Mosaiks, das nicht nur die 16 Häuser, sondern auch Wege und Flächen dazwischen überzieht. Neben Flaschen und Bleistiften sind auch Puppen Objekt ihrer Sammelleidenschaft und werden in teils anrührenden, teils absurd bis grotesk anmutenden Assemblagen arrangiert.
Obwohl Prisbrey, die als Konstrukteurin tätig war, ihrem Selbstverständnis nach nicht unbedingt Kunst machte – auf die Frage, wie man es denn sonst nennen solle, kokettiert sie: „Junk, I guess“ –, präsentiert Hofer sie richtigerweise dezidiert als Künstlerin, Sammlerin und Essayistin. Sie zeigt, dass das künstlerische und theoretische Schaffen der „Grandma“ im Kontext des Diskurses der 1960er-Jahre als Beitrag zu Fragen von Kunst, Ökologie und Recycling zu verstehen ist. Ein Bruch mit dem Bild des Autodidakten als männlichem Genie. Kathi Hofers „artist’s artist’s book“ ist somit durchaus als künstlerische Geste der Sichtbarmachung zu begreifen, die Tressa Prisbrey vom Stigma der Kategorisierung als Folk Art oder Outsider Art befreit. In seiner Materialität und Motivik weckt das „Bottle Village“ etwa Assoziationen mit Joseph Cornell, einem Eigenbrötler mit ähnlicher Sammelleidenschaft, dessen Schaffen allerdings über Institutionen wie das Metropolitan Museum of Art bereits Eingang in den kunsthistorischen Kanon gefunden hat.
Im österreichischen Kontext kommt man nicht umhin, an Friedensreich Hundertwasser zu denken, der 1972 sein eigenes „Bottle House“ baute – ob ihn seine Kalifornienreise fünf Jahre zuvor auch ins Simi Valley geführt hatte, ist nicht bekannt. Dass Tressa Prisbrey aber jedenfalls als Vorreiterin betrachtet werden muss, die ihr Wertverständnis ebenso durch ihre künstlerische wie soziale Praxis zu vermitteln suchte, macht ihr Essay deutlich. In rasantem Tempo verquickt er die Beschreibung einzelner Häuser und ihres Baus mit Anekdoten und Dialogfragmenten mit Besucher*innen. Ihr idiosynkratischer Stil ist dabei rau wie von Witz sprühend, und, obwohl sich so mancher Wortwitz schlecht übersetzen lässt, ist es Kathi Hofer gelungen, diesem eigenwilligen Tonfall treu zu bleiben. Es sind die Begegnungen und Gespräche, die all den gesammelten Sächelchen und Kuriositäten erst Leben einhauchen; die Geschichten, die Prisbrey aus den Erinnerungen und Assoziationen der Besucher*innen formt. Dabei betont die Künstlerin ein ums andere Mal ihre Philosophie des Wiederverwertens und der Wertschätzung – Teile ihrer Sammlung wieder zu verkaufen, lehnt sie etwa kategorisch ab, ungeachtet des potenziellen Profits. Sie stellt das „Bottle Village“ in erster Linie als einen Ort des Zusammenkommens dar, der sich auch als soziale Plastik verstehen lässt.
Dass Prisbrey in ihrer demokratischen Sammlungsmentalität mit dem „Bottle Village“ gewissermaßen ein Archiv des Ephemeren konstruierte, scheint aus heutiger Sicht mehr tragisch denn ironisch ob seiner eigenen Vergänglichkeit. Obwohl sich bereits seit 1979 das Preserve Bottle Village Committee um seine Erhaltung kümmerte, wurde das „Bottle Village“ 1994 vom großen Northridge-Erdbeben stark beschädigt. Die Überbleibsel formen, wie Kathi Hofer es formuliert, ein „kalifornisches Wahrzeichen in Form einer begehbaren Zeitkapsel – in dessen Mosaikwege die US-amerikanische Konsum- und Wegwerfkultur der 1950er- und 60er-Jahre zwischen hiesigem Luft- und Raumfahrtschrott einzementiert ist“.