Heft 2/2022 - Netzteil


Bloß nicht diese Welt!

Wie DIS in ihrem Film Everything But The World die Geschichte des Sapiens vermessen

Christian Höller


Es beginnt alles in der Wüste. Und wahrscheinlich wird dort auch alles einmal enden. Die ersten Einstellungen von Everything But The World, dem Pilotfilm einer noch zu drehenden Serie des New Yorker Kollektivs DIS, spannen ein kinematografisch hochwertiges Panorama auf. Bizarre Sandstein- und Felsformationen, wohltemperierte Sepiatöne, meditative Leere – und dann der Mensch. Oder besser: Sapien, so heißt die Figur, eine nackte, mit Erde und Blut beschmierte Frau, die den fatalen Aufbruch aus diesem Paradies (oder was wir aus heutiger Sicht als solches betrachten) verkörpert. „Remember when humans took their pain and created suffering out of really dumb, bad ideas?“, tönt es aus dem Off – „No offense, but committing suicide day after day and calling it progress … It’s so sad.“
Damit ist der Grundton gesetzt für die folgenden knapp 40 Minuten, in denen der Film die Geschichte des Sapiens im Schnelldurchlauf Revue passieren lässt. Nein, natürlich nicht die ganze, von Gelehrten wie Yuval Harari, David Graeber und anderen Anthropolog*innen kunstvoll rekapitulierte Historie, sondern ausgewählte Episoden, die in ihrer fokussierten Überlagerung jedoch ebenso aussagekräftig sind. Nicht die komplette Palette von Sesshaftwerdung und Erfindung der „agrikulturellen Religion“ (T. Morton) über die industrielle Revolution und das „Zeitalter des Feuers“ (J. Lovelock) bis, man weiß schon wohin, Anthropozän und Klimakatastrophe – nicht diese elendslange und inzwischen oft ein wenig litaneihaft heruntergebetete Verfallsgeschichte wird hier aufgetischt. Vielmehr setzen DIS mit ihrem Film kleine, pointierte und in ihrer konzeptuellen Dichte bemerkenswerte Nadelstiche im wuchernden Kontext dieser Megaerzählung. Besitzdenken (bzw. „castle mentality“) ist eines dieser neuralgischen Motive; Fossilisation, sprich die schleichenden Zersetzungs- und Mumifizierungsprozesse im Hinblick auf die technokapitalistische Gegenwart, ist der zweite grundlegende Aspekt.
How To Become A Fossil lautet denn auch der Übertitel der Installation, in deren Rahmen Everything But The World zuletzt in der Wiener Secession zu sehen war. Sie ist die erste Einzelpräsentation der 2010 gegründeten Gruppe in Österreich, die vor allem durch ihre Kuration der 9. Berlin Biennale (2016), der „Post-Internet-Biennale“, Aufsehen erregte. Und die sich, ursprünglich als Online-Magazin gegründet, inzwischen als multiverseller Verbund von künstlerischer Produktion, Mode-, Werbe-, Theorie- und Streamingaktivitäten versteht, was in der Plattform https://dis.art/ seinen imposanten Ausdruck findet. Vielfach werden dabei auch Projekte lanciert, die zunächst noch einer umfassenderen Realisierung harren – so etwa mit dem Piloten Everything But The World, der 2021 vom Genfer Centre d’Art Contemporain produziert wurde (mit nicht wenig Aufwand, wie die lange Creditliste am Ende des Films zeigt) und der nun aber auf seine (höchst wünschenswerte) serielle Fortführung wartet.
Bis dem so weit ist, führt der bereits fertiggestellte Teil vor Augen, wie Sapiens über die Jahrtausende selbst zu einer Art technokulturellem Fossil geworden ist bzw. wie die gegenwärtige Fossilisation auf vielerlei Pfaden kontinuierlich voranschreitet. Ein Tutorial dazu bietet eine Sequenz, in der ein*e YouTuber*in namens Branch (gespielt vom Künstler Ryan Trecartin, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat) einer anderen Internet-Witzfigur namens Banter (gespielt von Lizzie Fitch) erklärt, wie sich „Fossilhood“ immer mehr über die Menschheit ausbreitet. Die Episode ist „campy“ bis zum Anschlag und wird innerhalb des Films von einer anderen medienreflexiven Storyline konterkariert: Darin sieht man eine Moderatorin namens Shock Jock (gespielt von der Filmemacherin Leilah Weinraub), die von einem Loft in Los Angeles aus eine Radiosendung über die großen Fragen der Geschichte moderiert: „Why do communities need laws?“, fragt sie, „Do all communities need a system of laws?“, um dann herrliche lakonische Kurzerklärungen einzuflechten wie: „The first walls were for keeping people in and not out. Coercion is the heart of civilization.“
Eine solche zentrale (Zivilisations-)Instanz bildet auch die sogenannte „Castle Doctrine“, eine im angloamerikanischen Rechtssystem verankerte Maxime, wonach es jedem und jeder ausnahmslos gestattet ist, Eindringlinge in das eigene „Heim“ mit allen nur erdenklichen Mitteln abzuwehren. Im Film erklärt der New Yorker Bürgerrechtsanwalt Ron Kuby die Herkunft dieser Doktrin (England, 13. Jahrhundert) und erläutert, wie er selbst sie bei der Verteidigung eines Obdachlosen, der von zwei Collegestudenten angegriffen wurde und sich gewaltsam zur Wehr setzte, angewandt hat. Schließlich sei auch ein Pappkartonhaus auf einem Gehsteig ein Zuhause, und der Obdachlose hätte die beiden Aggressoren ohne größeres Aufheben gleich gänzlich eliminieren können: „even if they’re not using deadly physical force, if they break into your home intending to commit another crime, you can go ahead and kill them.“
Auf diese bizarre Juralektion folgt ein Zwischenspiel in einer echten Burg, dem Castello Caetani im italienischen Sermoneta, wo eine Fremdenführerin einer augenscheinlich diversen Touri-Gruppe den Zusammenhang von Hexenverfolgung, reproduktiver (Frauen-)Arbeit und der Entstehung des Kapitalismus erklärt. Auch darin kristallisiert sich die DIS-typische Brechung von analytischen, geschichtskritischen Inhalten durch gewitzte, stets ins hintergründig Ironische neigende Vortragsmodi auf formidable Weise. Wobei die Drastik der aufgegriffenen Themen erhalten bleibt und nicht etwa hinter den teils trendigen Medienfassaden zu versickern droht. Auch wenn Handysticks und Smartphone-Vertikalbilder die Perspektiven unablässig dominieren, höhlt dies keineswegs die Komplexität der angetippten Fragen aus – eher im Gegenteil: Sie werden dadurch vielmehr einer gegenwartsaffinen Formatierung zugeführt.
Und so nimmt auch die Verweiskaskade mit dem „Castle“ seinen (durchaus reflexiven) Lauf: Den grandiosen abschließenden Teil des Films bildet eine Episode in einer Filiale der ältesten US-amerikanischen Burger-Kette, die ausgerechnet „White Castle“ heißt (1921 gegründet). Eine weiße Drive-in-Kundin beginnt, sich bei der Bestellung ihrer „cheese slider“ und „chicken rings“ über die lange Wartezeit zu mokieren – woraufhin der afroamerikanische Angestellte Mark zu einer Rede ansetzt, welche die Themenpalette von Everything But The World nochmals in sich verdichtet: was es denn heiße, „eine Ewigkeit auf etwas zu warten“, was es überhaupt mit dem kapitalistischen Zeitmanagement auf sich habe, wie die industrielle Revolution, die auch die Nahrungsmittelproduktion voll erfasst hat, aus dem weißen Siedlerkolonialismus hervorgegangen sei, und was denn die Hühner irgendwem getan hätten, sodass 32 Milliarden von ihnen täglich (!) auf der ganzen Welt abgeschlachtet werden und künftige Archäolog*innen, egal, wo sie graben, auf x-Trillionen Hühnerknochen stoßen werden. Hilarious! Die zugespitzte Tirade bildet wie viele andere Momente des Films eine geradezu perfekte Masche in der medial und versatzstückmäßig reichhaltigen Tapisserie dieses gelungenen Gesellschafts- und Menschheitsbildes.
Everything But The World nimmt die technokapitalistische Gegenwart nicht einfach nur ironisch aufs Korn. Vielmehr dringt es stichprobenhaft – und treffsicher – zu deren innerstem Kern vor. In all seiner fossilen Körnigkeit und, wie man hinzufügen muss, höchst zähen Veränderbarkeit.

DIS. How To Become A Fossil, Secession Wien, 4. März bis 12. Juni 2022.
https://dis.art/