Heft 4/2022


Touch

Editorial


Es ist schwer, das Reale zu berühren, hieß es vor geraumer Zeit einmal mottohaft im Kunstbereich. Noch schwerer allerdings ist es, so lässt sich aus heutiger Sicht hinzufügen, nicht vom Realen – auf mehr oder weniger unangenehme Weise – berührt zu werden. Die Erfahrungen der letzten Monate und Jahre sprechen diesbezüglich ihre eigene Sprache, auch wenn diese den empfindenden Subjekten zumeist nur unbewusst zugänglich ist. Berühren und Berührtwerden, so sehr sie auf den ersten Blick wie Gegensätze wirken mögen, stehen womöglich in einem viel verwickelteren Verhältnis zueinander, als eine trennscharfe Begriffsgrammatik dies wahrhaben möchte. Vielleicht mit ein Grund, warum man beim Allgemeinterm Berührung – „Touch“ – ansetzen sollte, um davon ausgehend relevante Ableitungen vorzunehmen.
Zunächst schien es, als würde sich nach den einschneidenden Erfahrungen der Lockdowns und des Social Distancing in der Gesellschaft vermehrt wieder ein Bedürfnis nach Nähe abzeichnen. Ein Bedürfnis, das sich idealiter in der Berührung der oder des anderen ausdrückt. Nachdem jedoch der Schutz vor Berührung in der Pandemie zum obersten Gebot geworden ist, haben auch Begriffe wie körperliche Integrität und Identität eine Neuaufladung erfahren. Vielfach wurden hier tendenziell abgekapselte Vorstellungen gegen offenere, fluide bzw. multiple Konzepte des Selbst in Stellung gebracht, und das nicht ohne gravierende soziale und politische Konsequenzen. Immunität, ganz allgemein verstanden, ist so zu einer Art inneren Schranke geworden, die jede Form von Gemeinschaft zerschneidet. Empathie kann demgegenüber kaum noch mit Intimität, Zärtlichkeit oder emotionaler Verbindung in Beziehung gebracht werden. Leistung, Wettbewerb, Abschottung und Selbstsorge, zutiefst neoliberale Konzepte, die zuvor schon hohe Priorität hatten, sind als Leitgedanken der Gesellschaft nochmals zusätzlich einzementiert worden.
Daran vermag auch die neu erstarkte Rede von der Solidarität – gerade auch in Folge des Ukraine-Kriegs oder der Klimakatastrophe – nicht allzu viel ändern. Zwar scheint sich die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Bewusstseins, eines Trotz-aller-Differenzen-und-Widerstände-sich-Nahestehens, unablässig aufzudrängen. Doch wenn es um konkrete Schritte geht, wie sich dieses Nahestehen und gemeinsame Berührtwerden, egal, ob in Pandemie- oder Klimaangelegenheiten, umsetzen lässt (ganz zu schweigen davon, wie sich einem entfesselten Kriegsherrn Einhalt gebieten lässt), stößt das reale Zusammenstehen schnell an Grenzen.
Und dennoch: Die Problematik rund um „Touch“, um Berühren und Berührtwerden auf ganz unterschiedlichen Ebenen, soll hier als Versuchsballon dienen, um umfassendere soziale wie ästhetische Dynamiken daran festzumachen. Andrij Ripa etwa spricht in seinem Essay von verschiedenen Levels der Affizierung im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine. Ausgehend von der handfesten und lebensbedrohlichen Berührung durch den immer perfideren Feind versucht er, Rückschlüsse auf eine generelle Ökonomie der Gewalt zu ziehen, die in ihrem Vernichtungswillen nicht weit von historischen Mustern des „totalen Kriegs“ zu liegen kommt. Inwiefern davon auch ästhetische Parameter betroffen sind, etwa wenn es darum geht, diesem Berührtwerden eine angemessene künstlerische Form zu geben, kommt in Ripas Darlegungen gleichfalls zur Sprache.
Etwas allgemeiner setzt sich die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser im Gespräch mit den Kriterien von Nähe und Distanz im Diskurs über Berührung auseinander. Die vielen Ambivalenzen, die darin zum Tragen kommen, sind ebenso Thema wie der grundlegende Aspekt der Verletzbarkeit, der bei jeder Form von „Touch“ unweigerlich mitschwingt. Harrasser legt dies auf die Idee von nicht bereits festgelegten, erst zu schaffenden Räumen um, in denen so etwas wie eine gleichberechtigte, solidarische Berührung überhaupt erst möglich wird.
Eine Art naturwissenschaftliche Unterfütterung dazu bietet der Essay von Karen Barad, die dem physikalischen Phänomen der Berührung auf der Ebene der Quantenfeldtheorie – einem ihrer Spezialgebiete – nachgeht. Der verblüffende Befund von Barads komplexen Ausführungen: Einen Gegenstand in der Welt zu berühren heißt immer auch, mit einer Andersheit in einer oder einem selber in Kontakt zu treten, mithin die eigene Souveränität in Richtung Alterität zu überschreiten. Diese Erkenntnis unterstreichen, ästhetisch anders tariert, die Beiträge von Anna Daučíková, Raluca Voinea und des KUNCI Study Forum & Collective, die in unterschiedlichen Kombinationen von künstlerischen und diskursiven Zugängen verdeckte Aspekte der Touch-Thematik zutage fördern.
Ergänzt wird dieser Schwerpunkt, wie in der letzten Ausgabe angekündigt, durch ausgewählte Perspektiven auf die documenta fifteen. Der weitgehend negativen Berührtheit der deutschsprachigen Medienwelt durch die Schau werden differenziertere Sichtweisen entgegenzuhalten versucht – oder solche, die in der bisherigen Rezeption generell zu kurz kamen. Touch und Touching, könnte man sagen, finden sich hier großflächiger umgelegt auf das Feld der Kunstkritik.
Wenn es um Berührung geht, regen sich oft unvorhergesehene Empfindungsweisen. Aber hatten emanzipatorische Theorien nicht immer schon das Außen weniger als erstarrte Grenze denn vielmehr als bewegliche Materie, belebt von Bewegungen und Faltungen, die zugleich auch ein Innen bilden, betrachtet? Oder braucht es, um einander wieder in einem solidarischen Sinn berühren zu können, eine noch tiefgründigere ontologische Neuorientierung? Berühren und Berührtwerden, wie sie in den Beiträgen dieser Ausgabe angedacht werden, implizieren in jedem Fall eine Neukonzeption dessen, das, was die Materie tut, oder besser gesagt, was die Materie ist: eine Verdichtung der Fähigkeit zu reagieren, zu antworten. Solcherart bedeutet der Versuch, das Verhältnis von Physis und kultureller Repräsentation neu zu denken, zugleich auch eine aktive Teilhabe am Dynamischwerden der Welt.