Heft 4/2023 - Imperiale Gewalt


Imperiale Gewalt im privaten Garten

Zur Geschichte von Kleinkriegen, Sklaverei und kolonialen Besitzverhältnissen

Lauren Benton


Imperien produzierten immer Gewalt. Doch viele Arten dieser imperialen Gewalt – wie Plünderungen, Versklavung oder bewaffnete Übergriffe – galten historisch gesehen meist nicht als kriegerische Akte. Und doch entfaltete diese beständige „kleine Gewalt“ tief- und weitreichende Wirkung, indem sie in Privaträume eindrang und damit auch das alltägliche Leben fernab jeglicher Kriegsfront strukturierte.
Um diese Wirkung klar zu erkennen, müssen wir zuerst die Brille abnehmen, mit der uns gelehrt wurde, Kleinkriege zu betrachten. Solche Konflikte werden heute oft als Ausnahmeereignisse gedeutet, das heißt als kurze und plötzliche Friedensbrüche im Rahmen der modernen internationalen Ordnung zur Kriegsvermeidung. Wir erwarten, dass Gewalt periodisch und konzentriert über globale Gefahrenherde hereinbricht – dort, wo es scheinbar unlösbare Religions- oder Gruppenkonflikte gibt. Wenn diese Konflikte eskalieren, stellen Expert*innen sie häufig als Beispiele für „asymmetrische Kriegsführung“ hin, bei der irreguläre Kräfte konventionellen Armeen gegenüberstehen.
Die Geschichte der imperialen Gewalt der letzten 1.000 Jahre widerlegt solch bequeme Verallgemeinerungen. Serien kleinerer Kriege stellten schon in der Frühmoderne keine Anomalie dar, sondern waren endemisch. In allen Weltregionen haben Imperien seit jeher wirr Gewalt ausgeübt. In imperialen Konflikten standen sich keineswegs immer Guerillas und staatlich bezahlte Soldat*innen gegenüber, sondern alle Seiten gaben sich schamlos Raubzügen und der Selbstjustiz hin.
Am meisten schockiert, dass solche imperialen Kleinkriege wie ein Uhrwerk immer wieder Gräueltaten zeitigten. Die Gefahr verheerender Gewalt schwebte wie ein Schatten über jenen Routinen, die eigentlich den Umfang und die Intensität der Kriege begrenzen sollten. Die periodischen Plünderungen und Gegenplünderungen arteten bisweilen zu grausamen Massakern aus, zum Beispiel wenn Belagerungsarmeen in Städte eindrangen, deren Zivilbevölkerung sich der Kapitulation verweigert hatte und dafür nun hingeschlachtet und versklavt wurde. Geringfügige Gewalt entlang der labilen Grenzen expandierender Imperien ging nur allzu oft in unüberschaubare Raub- und Vernichtungsfeldzüge über.
In meinem Buch They Called It Peace: Worlds of Imperial Violence zeichne ich diese dunkle Geschichte nach und beschreibe dabei auch den rechtlichen Rahmen, in dem sie sich ereignete. Dabei zeigt sich, wie ernste Bemühungen, die Kriegsgräuel zu begrenzen, zuweilen die Akzeptanz andauernder, stiller Kriege beförderte, die dann erst recht zu Zorn und Zerstörung führten. Aus dieser Geschichte lässt sich zwar keine einfache moralische Lektion ableiten, aber immerhin zeigt sie die Dynamik von Gewalt, die, wenn auch in anderer Form, bis heute fortdauert. In vielerlei Hinsicht leiden wir nämlich bis heute unter der furchtbaren Wahl zwischen der Illusion begrenzter Kriege und dem Schrecken, wenn diese dann doch auf brutale Weise eskalieren.
Ein typisches und beklemmendes Merkmal dieser ungewöhnlichen Geschichte ist, wie der Krieg bis ins Herz von privaten Hausgemeinschaften vordringt. Die filigranen Zusammenhänge zwischen imperialen Kriegen und dem Privatbereich zu erkennen ist essenziell, will man die Gewalt zwischen Generationen, Geschlechtern und Ethnien verstehen. Nur so lässt sich das verborgene Einsickern des Krieges in die sozialen Alltagsbeziehungen beleuchten.

Keimzellen politischer Gemeinschaften
Schon im frühmodernen Europa dachten politische Theologen über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit imperialer Gewalt und deren Beziehung zum individuellen Gewissen und Seelenheil nach. Dabei schlossen sie an die aristotelische Tradition an, der gemäß Hausgemeinschaften die Keimzelle jeder politischen Gemeinschaft sind. Nach dieser Deutung tun sich Haushalte zusammen, um gleichsam das Rohmaterial von Gemeinwesen zu bilden, was auch die politische Ordnung weit entfernter Kolonien miteinschloss. Dass es Hausgemeinschaften gab, unterschied das Leben innerhalb der Polis von der beängstigenden Welt außerhalb.
Diese Tradition bestimmte also private Haushalte als zivilisierende Zellen. Doch gibt es parallel dazu eine zweite Logik, der zufolge Hausgemeinschaften zur Dynamik imperialer Expansion und des Krieges dazugehören. Die Proponent*innen der Imperien versuchten nämlich, ihre Unternehmungen und ihre Gewalt zu legitimieren, indem sie Hausgemeinschaften für sich zu gewinnen suchten durch Unterstützung und Schutz.
So benützten die frühen europäischen Imperien private Haushalte in Übersee, um ihre Ansprüche auf koloniales Territorium zu bekräftigen. Immerhin war jede Siedlung ein schlagender Beweis, dass man ein Gebiet tatsächlich auch besaß, und so hatten in Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Mächten bewohnte Behausungen mehr symbolisches Gewicht als die meist rudimentären Befestigungsanlagen. Mit anderen Worten verwandelten erst Hausgemeinschaften Garnisonen in Städte.
Alle frühen europäischen Imperien waren in den Kolonien auf die Gründung von Hausgemeinschaften fixiert. So setzte im 16. Jahrhundert der Gouverneur Afonso de Albuquerque im portugiesischen Estado da Índia Anreize, damit Soldaten aus dem Reich einheimische Frauen heirateten und mit ihnen Haushalte gründeten. Er belohnte die verheirateten Männer nicht nur mit seiner Gunst, sondern auch mit Sitzen in der Stadtverwaltung. In den englischen Kolonien der Karibik verteilten im 17. Jahrhundert die Verwalter Land an Haushaltsvorstände und gewährten ihnen Diener*innen, Land und die Möglichkeit des Sklavenerwerbs. Die Hausgemeinschaften bildeten Kolonien, die dadurch erst Teile des Imperiums und nicht bloß Außenposten waren.
Doch waren Haushalte nicht einfach nur koloniale Einrichtungen. Sie bargen auch das Versprechen auf Krieg, ja überhaupt die Möglichkeit, Krieg zu führen. Eine ausgeklügelte rechtliche Logik sprach den Hausgemeinschaften eine Rolle bei der Etablierung des Rechts zu, Krieg zu führen, geplünderte Güter zu Eigentum und Kriegsgefangene zu Sklav*innen zu machen, ja überhaupt die permanente Gewalt gegen die Einheimischen zu rechtfertigen.
So nahmen sich Kolonialstädte von der ersten Ansiedlung an das Recht heraus, Kriege zur Selbstverteidigung zu führen. Das Argument dafür inkludierte Elemente der Doktrin des gerechten Krieges, der zufolge eine politische Gemeinschaft auf jeden Angriff rechtmäßig mit Gewalt reagieren durfte. Mit Vermehrung der Hausgemeinschaften erschien dieses Argument immer schlagender und legitimer. Die Kolonialbeamten sahen daher vor, in den jungen Kolonien immer mehr Haushalte zu gründen, und beriefen sich dabei auf das Recht zur Selbstverteidigung, das sie zu Kriegen vor Ort ohne Genehmigung der Zentralmacht ermächtigte.
Im 17. Jahrhundert war dieser rechtliche Ansatz beispielsweise ein Schlüssel zur kriegerischen Besiedelung der Karibik. Man glaubt immer, das englische Jamaika sei zu jener Zeit eine Piratenhöhle gewesen, das heißt ein Stützpunkt für Verbrecher*innen außerhalb der imperialen Ordnung. Doch die englischen Plünderer, die ausschwärmten, um in Friedenszeiten Ziele auf benachbarten Inseln oder dem spanischen Festland anzugreifen, handelten zumeist mit Befugnis von oben. Sie griffen auch in Friedenszeiten an und handelten dabei keineswegs wie Piraten. Viele von ihnen waren von Gouverneuren beauftragt, die sich auf ihr unabhängiges Kolonialrecht auf Kriegsführung beriefen. Und damit beriefen sich die Beamten eben auf die existierenden Haushalte, um ihre Gewalt gegen Feinde – oder auch nur potenzielle Feinde – zu rechtfertigen.
Die Hausgemeinschaften waren also nicht nur Stützen des Rechts, sondern untermauerten auch die Möglichkeit der Gewalt. Sie waren der Vorwand, um die Soldaten vor Ort zu halten und sie für zukünftige Verteidigungs-, aber auch Angriffskriege dienstbar zu machen. Die Einwurzelung von Soldaten in den Kolonien war eine wichtige Strategie in einer Welt, die sich ganz der Plünderei hingab. Stets lockten lukrative Beutezüge die Männer aus den Kolonien, die dadurch Gefahr liefen, sich womöglich neuen Herren anzuschließen. Im Indischen Ozean beschwerten sich portugiesische Beamte über jene vogelfreien Europäer, die sich in muslimischen Küstenorten niederließen, wodurch ihre Arbeits- und Kampfkraft den nun unterbesetzten Garnisonen verloren gingen. Eine ähnliche Gefahr bestand auch für die europäischen Siedlungen in der Karibik, wo Beutezüge zu See Männer von ihren Siedlungen weglockten und Anreize schufen, sich rivalisierenden Imperien anzuschließen.

Legale Verwahrungsorte von Gefangenen
Am meisten bestürzt, dass die Hausgemeinschaften, welche die Grundlage dieser Plünderungsökonomie bildeten, auch zu den wichtigsten legalen Verwahrungsorten Gefangener wurden. Hier wurde eine primitive, finstere Logik am Werk: Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis konnten nämlich Menschen, die im Zuge „gerechter Kriege“ gefangen genommen wurden, rechtmäßig zu Sklav*innen werden. Die Versklavung stellte dieser Rechtsdeutung zufolge einen Gnadenakt dar, da die Sieger ja immerhin auf ihr Recht verzichteten, die bezwungenen Feind*innen umzubringen.
Manche der Gefangenen wurden der Obrigkeit zugewiesen und beispielsweise zum Befestigungsbau eingesetzt. Viel häufiger jedoch kamen sie in private Haushalte, deren Vorstände per Gesetz befugt waren, Gefangene festzuhalten und zu disziplinieren. Diese Rechtslage war nicht neu. Haushaltsvorstände waren auch Vorsitzende halbprivater Gerichtsbarkeiten, die vom Herrscher legitimiert waren. Also hatten sie auch die Macht, Haushaltsuntergebene zu verurteilen und zu bestrafen.
Ihre Stellung gewährte den Haushaltsvorständen das Dominium über verschiedene Arten von Untergebenen – Frauen, Kinder, Diener*innen und Sklav*innen. Diese Macht war zwar nicht unbeschränkt, ging aber sehr weit und wurde auch nur selten kontrolliert. Die Befugnis der Haushaltsvorstände, zu richten und zu strafen, wurde von den Kolonialstädten sowie den Zentralregierungen der Imperien garantiert.
Diese Regelung machte Hausgemeinschaften zu erweiterten Kriegsschauplätzen. Da ihnen der permanente Strafvollzug der Kriegsgefangenen überantwortet war, funktionierten sie symbolisch wie Kleinversionen des bewaffneten Kampfs. Hinter familiären Beziehungen und häuslichem Frieden verbargen sich vergangene und zukünftige Gewalt.
Gleichwohl spürten nicht nur die Gefangenen, sondern auch ihre Peiniger diesen Schatten des Krieges, der auf die Hausgemeinschaften fiel. Manche Gefangene hatten den Eindruck, sich in einem permanenten Krieg mit ihren Entführern zu befinden. So unterstreicht der Historiker Vincent Brown in seinem Buch über den großen Sklavenaufstand auf Jamaika im Jahr 1760, der unter dem Namen „Tacky’s Revolt“ bekannt wurde, dass die Sklav*innen ihren Aufstand zum Teil so organisierten, dass sie an die auch in der Gefangenschaft weiterbestehende Solidarität untereinander appellierten.
Doch auch die Plantagenbesitzer hatten das Gefühl, sie verfügten über eine zwar zersplitterte, jedoch stets kriegsbereite Armee. Sie suchten nach Möglichkeiten, das Gespenst der Revolte auszutreiben. Eine beliebte Taktik bestand darin, sich der Fantasie hinzugeben, die Gefangenen würden sich freiwillig unterwerfen. Die Historikerin Sonia Tycko hat beispielsweise die Wortwahl der Einverständnisklauseln in den Verträgen von Leibeigenen in England und Britisch-Nordamerika untersucht. Durch deren Wortwahl konnte man den Eindruck gewinnen, die Sklav*innen hätten ihrer Versklavung zugestimmt, weil sie diese bei ihrer Gefangennahme dem Tod vorgezogen hätten. Diese fiktive Einwilligung machte Gewalt im Haushalt zu einer Strafe und enthob sie zugleich dem Krieg.
Innerhalb der Hausgemeinschaften konnten die Vorstände somit rechtlich gedeckt eine grausame Gewalt ausüben. Als Arthur Hodge, ein britischer Plantagenbesitzer, 1811 in Tortola des Mordes an einem Sklaven angeklagt wurde, sagten Zeug*innen über die systematische und extreme Gewalt gegen die versklavten Menschen in seinem Haus aus. Dazu gehörte die grausame Bestrafung zweier Sklavinnen, denen kochendes Wasser in den Rachen geschüttet wurde. Bis eine Fehde mit anderen Plantagenbesitzern die Behörden dazu zwang, Anklage gegen Hodge zu erheben, waren die Weißen der Ansicht gewesen, seine Grausamkeiten lägen durchaus im Rahmen der erlaubten Disziplinierung innerhalb der Hausgemeinschaft.
Obwohl die Kolonialist*innen ihre bei der Sklavenhaltung angewandte Gewalt nicht leugneten, fanden sie doch Wege, sie aus dem Blickfeld zu verbannen. Wie der Historiker Brett Rushforth dargelegt hat, verniedlichten Siedler*innen im neufranzösischen Quebec die Versklavung indigener Menschen dadurch, dass sie sie als einen Akt darstellten, der weit weg, beim Krieg gegen die Urbevölkerung im Landesinneren stattgefunden hatte. Dementsprechend bezeichneten die französischen Kolonialist*innen alle indigenen Sklaven, egal, woher sie kamen, als „Pani“ – mit dem Namen des Volkes aus den Great Plains, den sie allen Gefangenen gaben. Diese Rhetorik löschte nicht nur deren Verwandtschaftsbande aus, sondern drängte das Gespenst der Gewalt auch über die Stadtmauern hinaus.
Der Mythos, die Versklavung fände fernab statt, sollte von der permanenten Gewalt direkt vor Ort ablenken. In Wahrheit gab es in ganz Amerika auch nach den Unabhängigkeitserklärungen stadtnahe Raubzüge, um Indigene gefangen zu nehmen. Sie begleiteten sogar noch die imperiale Expansion im Indischen und Pazifischen Ozean im 19. Jahrhundert. Während und nach der Zeit der Revolutionen, ja bis in der Zeit der Sklavenbefreiung wurden ständig Menschen von Siedlern in ihre Haushalte verschleppt.
Manche Facetten dieser Geschichte sind bekannter als andere. Darstellungen der Geschichte des Plantagenkomplexes in Nord-, Zentral- und Südamerika führen sehr wohl an, dass auch nach der Auflösung eines Großteils des spanisch-amerikanischen Imperiums und nach dem formalen Ende der US-amerikanischen Sklaverei immer noch Sklav*innen per Schiff aus ihrer afrikanischen Heimat auf Plantagen in Brasilien, Kuba und Puerto Rico transportiert wurden.
Die lange Nachgeschichte der „anderen Sklaverei“, wie Andrés Reséndez die Versklavung indigener Menschen nennt, wird seltener erwähnt. Reséndez zeichnet das Bild eines lebhaften Handels mit indigenen Gefangenen über die Grenze in die südwestlichen Vereinigten Staaten, der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in eine Praxis der Schuld-Leibeigenschaft wandelte. Hier wie dort waren es die Hausgemeinschaften, die die systematische Gefangennahme von Menschen am Laufen hielten.
Die ausgedehnten Plünderungswellen spanischer und republikanischer Kräfte gegen die Charrúas, die Minuanes und andere indigene Gruppen im Hinterland des Rio de la Plata zeigen eindrücklich, wie wichtig private Haushalte waren. Die Rede vom gerechten Krieg prägte die Anweisungen an die Plünderer, indigene Männer zu töten und Frauen und Kinder in organisierten Überfällen gefangen zu nehmen. Da die Versklavung von índios nun ungesetzlich war, bezeichneten die Beamten sie bei ihrer „Zuteilung“ an die Hausgemeinschaften einfach als „Diener*innen“. Der uruguayische Anthropologe Diego Bracco hält fest, dass der Frauendiebstahl auch einen katastrophalen demografischen Rückgang zur Folge hatte. 1830 richteten Soldaten der neuen República Oriental del Uruguay in einem Ort namens Salsipuedes („Flieh-wenn-du-kannst“) ein Massaker an Charrúas an. Ein Franzose nahm vier Überlebende, drei Männer und eine Frau, mit nach Paris, wo er sie als die Letzten „des kürzlich ausgerotteten Indianerstamms der Charrúas“ öffentlich ausstellte. Andere wieder wurden zu Diener*innen in Haushalten von Montevideo gemacht.
Eine Nebenwirkung der Aufnahme von Gefangenen in Hausgemeinschaften war, dass diese keine eigenen Haushalte gründen konnten. Während politische Theologen im 16. Jahrhundert Ehefrauen, Sklav*innen und sogar Kindern neben dem Recht auf Selbsterhaltung noch andere natürliche Grundrechte wie jenes zu heiraten und sich fortzupflanzen zugebilligt hatten, galt diese Rechtsmeinung nun nicht mehr. Der Despotismus in der Hausgemeinschaft ließ, wie die Historikerin Jennifer Morgan in ihrer Arbeit über afrikanische Sklavinnen gezeigt hat, wenig Platz für körperliche Unversehrtheit oder gar Fortpflanzungsrechte.
Das Bild ist brutal, aber nicht übertrieben. Die imperiale Gewalt sickerte durch verschiedenste Ritzen in private Haushalte. Sie veränderte Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, gab die Bestrafungspraxis vor und verwandelte den intimsten Kreis der Gesellschaft in auf Gewalt spezialisierte Orte im Rahmen eines umfassenderen Dauerkriegs.
Und doch wäre es falsch, die komplexen und affektiven Beziehungen innerhalb der Hausgemeinschaften unerwähnt zu lassen. Die Gefangenen hatten durchaus Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen, und hinter den Beziehungen im Haushalt bebten vielerlei Gefühle, ja es wurden auch Statusgrenzen auf ungebührliche Art verletzt. Sklav*innen und Exsklav*innen kämpften, wie wir wissen, hart vor Gericht, aber auch auf zahllose informelle Weisen, um Familien zu gründen und zu erhalten. In Afrika und im Indischen Ozean schafften es einige Gefangene, ihre Lage zu verbessern, indem sie immer mehr zu politischen Insider*innen wurden. Fiktive und wirkliche Verwandtschaft konnte dabei behilflich sein.
Heute ist es für uns schwierig, die emotionale Begleitmusik dieser Verhaltensmuster nachzuvollziehen. Liebesbeziehungen und Bindungen innerhalb von Hausgemeinschaften wurden oft missbraucht, um den Horror der häuslichen Gewalt zu kaschieren oder um zu vertuschen, dass diese Schande so lange als akzeptabel galt. Nicole Eustace und andere Historiker*innen erinnern in ihren Schriften über europäisch-indigene Beziehungen im frühkolonialen Nordamerika an die Bandbreite extremer Emotionen wie Wut, Scham und Angst und deren absolut politischen Charakter. Haushalte waren und blieben stets volatile soziale Felder, in denen sich Macht und ihre Deutung andauernd änderten. Sie in ihrem vollen Umfang zu rekonstruieren erfordert große Sorgfalt – und viel mehr echte Beweise als bloße Mutmaßungen. Lehren aus dem Zusammenhang zwischen privater und staatlicher Gewalt zu ziehen, ist noch viel schwieriger.
Doch so viel wissen wir: In und um Imperien gab es Leute, die, oft in bester Absicht, die Gewalt zu beschränken trachteten. Doch selbst wenn ihre Bemühungen vorderhand von Erfolg gekrönt schienen, war das Ergebnis niemals Friede. Im Hintergrund drohte der permanente Kriegszustand, immer in explosive Gewalt auszuarten und in die konflikt- und gefühlsgeladene häusliche Sphäre einzusickern.
Nicht weniger permanent war die Suche nach privater Sicherheit und Schutz vor dem Krieg. Es gibt sie bis heute. Wenn uns die Geschichte etwas lehren kann, dann vielleicht deshalb, weil sie uns die Augen für die versteckten Widersprüche und tragischen Tendenzen der Gewaltbeschränkung öffnet. Was wir heute Frieden nennen, ist immer noch die Illusion eines Friedens.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

Literatur
Benton, Lauren, They Called It Peace: Worlds of Imperial Violence. Princeton University Press 2024.
Benton, Lauren, This Melancholy Labyrinth: The Trial of Arthur Hodge and the Boundaries of Imperial Law, in: Alabama Law Review 64/1, 2012, S. 91–122.
Bracco, Diego, Con las Armas en La Mano: Charrúas, Guenoa-Minuanos y Guaraníes. Montevideo: Planeta 2013.
Brown, Vincent, Tacky’s Revolt: The Story of an Atlantic Slave War. Cambridge, MA: Belknap Press 2020.
Eustace, Nicole, Covered with Night: A Story of Murder and Indigenous Justice in Early America. New York: Liveright 2021.
Morgan, Nicole, Laboring Women: Reproduction and Gender in New World Slavery. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2004.
Reséndez, Andrés, The Other Slavery: The Uncovered Story of Indian Enslavement in America. Boston: Mariner Books 2016.
Rushforth, Brett, Bonds of Alliance: Indigenous and Atlantic Slaveries in New France. Chapel Hill: University of North Carolina Press 2012.
Tycko, Sonia, The Legality of Prisoner of War Labour in England, 1648–1655, in: Past & Present, 246/1, 2020, S. 35–68.