Heft 4/2023 - Netzteil


Neue Allianzen

Die Izolyatsia Stiftung und die Stuttgarter Initiative Interakt

Dietrich Heißenbüttel


Ausstellungen ukrainischer Künstler*innen haben derzeit Konjunktur. Weniger weil sie an der Situation ihres Landes etwas ändern könnten, als vielmehr, weil dafür leicht an Förderungen heranzukommen ist. Der Versuch, mit künstlerischen Mitteln auf den Konflikt einzuwirken, war schon 2014 gescheitert, als Separatisten das Kunstzentrum Izolyatsia in Donezk besetzten, gegründet vier Jahre zuvor von Luba (Ljubov) Michailova, der Tochter des letzten Direktors der früheren Dämmstoffmattenfabrik.1
Auf dem Augsburger Friedensfest 2015 hat Lubava Illyenko, die an der Universität Augsburg über sowjetische Wandmosaiken promoviert, das Projekt Izolyatsia vorgestellt. „Das Schicksal von Izolyatsia“, so die Ankündigung, „steht exemplarisch für die (mögliche) Relevanz von Kunst und Kultur in Konflikt- und Kriegssituationen.“ Diese Frage hat nach dem Desaster des Irakkriegs viele interessiert. Sie stand 2011 im Mittelpunkt einer Tagung der European National Institutes of Culture (Eunic) in Brüssel, wo etwa als erfolgreiches Projekt ein Almanach südkaukasischer Autor*innen vorgestellt wurde, der Beteiligte aus Georgien und Südossetien an einen Tisch brachte. Auf Georgien liegt beispielsweise auch ein Schwerpunkt der Schweizer Stiftung Artasfoundation, deren Credo lautet: „Kunst kann Frieden fördern.“
Das mag sein. Aber nicht, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Vielversprechende Initiativen wie die ukrainische Plattform Past / Future / Art, die sich auf die Erinnerungskultur konzentriert, können derzeit nur außerhalb des Landes wirken.2 Kürzlich geschah dies etwa mit einer Ausstellung zum Massaker von Babyn Jar im Jahr 1941, dem 30.000 jüdische Menschen zum Opfer fielen, in der belgischen Gedenkstätte Kazerne Dossin im NS-Lager Mechelen. Die Izolyatsia-Stiftung hat das Projekt unterstützt. Ebenso die Foto-Wanderausstellung You know that you are human, die derzeit auf der sizilianischen Biennale Countless Cities zu sehen ist.3 Aber Priorität hat im Moment die Soforthilfe.
Ähnlich sieht das die ukrainische Sopranistin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko, die seit zehn Jahren in Stuttgart lebt und im letzten Jahr zweimal in der Ukraine gewesen ist. Sie hat einen Künstler*innen-Nothilfefonds ins Leben gerufen und im vergangenen Dezember fast im Alleingang ein zweitägiges Festival organisiert, das erstmals seit Beginn der russischen Invasion die über mehrere Länder verstreuten Musiker*innen des Ukho-Ensembles für zeitgenössische Musik wieder zusammenbrachte. Daraus ist inzwischen ein Label für neue und experimentelle Musik der Ukraine entstanden. Auch sonst bringt Vitrenko immer wieder Werke ukrainischer Komponist*innen zur Aufführung. Doch ihr Schwerpunkt liegt anderswo. Während sie weiterhin als Sängerin, Dirigentin und Dozentin Engagements in verschiedenen Ländern wahrnimmt, laufen ihre eigenen Projekte über die Initiative Interakt, die sie 2017 mit Maria Kalesnikava gegründet hat.4 Es war die Idee der weißrussischen Flötistin, die selbst mit Interakt nur ein einziges eigenes Projekt umsetzen konnte. Kalesnikava sitzt im Gefängnis, seit sie sich 2020 in den Präsidentschaftswahlkampf ihres Landes eingeschaltet hat.
Fast von Anfang an ist auch die Regisseurin Jasmin Schädler dabei, die mit Vitrenko die Initiative leitet: kein Ensemble, sondern ein Verein, dem rund 20 Künstler*innen verschiedener Genres angehören. Und genau darauf liegt der Fokus: Alle Projekte sind interdisziplinär angelegt. Das wollen viele, doch es scheitert oft daran, dass jede Kunstrichtung – Musik, Theater, Film, bildende Kunst – ihre eigenen Diskurse, eigene Zeitschriften, eigene Orte, ihr eigenes Publikum hat und ökonomisch wie organisatorisch verschieden strukturiert ist. Schauspieler*innen arbeiten häufig in Zeitverträgen, Künstler*innen freiberuflich; Musiker*innen verdienen oft wenig Geld, doch für Orchester gelten strenge, gewerkschaftlich erkämpfte Arbeitszeitregeln; Künstler*innenhonorare sind dagegen noch immer keine Selbstverständlichkeit. Wer versucht, diese Barrieren zu überwinden, setzt sich unvermeidlich zwischen alle Stühle.
So auch Interakt – angefangen damit, dass die Initiative über keine eigenen Räume verfügt. Diesbezüglich half zunächst der Veranstalter Musik der Jahrhunderte aus, bei dem Kalesnikava zuvor beschäftigt war, doch nach einem Jahr kam die Corona-Krise dazwischen. Allerdings hatte Interakt auch schon vorher Erfahrungen im öffentlichen Raum gesammelt, unter anderem auf dem Christopher Street Day. Anstatt ihre Projekte ins Internet zu verlagern, zogen 2020 im Zuge des Projekts Kunst auf Rädern neun Musiker*innen und Performer*innen an drei aufeinander folgenden Tagen in neun Stuttgarter Stadtteile, jedes Mal mit einem anderen Programm.
Ein kleines Symposium zur haitianischen Revolution, das Jasmin Schädler anlässlich des Hegel-Jahres 2020 organisiert hat, fand dagegen online statt. Allerdings unterschied sich die Veranstaltung von den üblichen Zoom-Konferenzen dadurch, dass die Redner*innen virtuell in verschiedenen Bars von Port-au-Prince auftraten. Mit Haiti an der Hegel-Bar, so der leicht ironische Titel, brachte zwar nicht unterschiedliche künstlerische Disziplinen, dafür aber Welten zusammen, zwischen denen bisher kaum eine Verbindung wahrgenommen worden war: den ersten postkolonialen Staat, dessen Bewohner*innen 1803 Menschen- und Bürgerrechte auch für sich reklamierten, und den Philosophen, der eine Weltgeschichte zu konstruieren versuchte, Menschen anderer Kontinente dabei aber auf einer frühen, kindlichen Entwicklungsstufe verortete.5
Das Digitale oder generell die Auswirkungen der Technologie auf Identität und Gefühlsleben sind bei Interakt immer wieder Thema: vom allerersten Stück über Chat-Dialoge bis zum jüngsten von Vitrenko über Transhumanismus. Yiran Zhao, Kai Chun Chuang und N. Andrew Walsh haben in der Corona-Zeit einen früheren Bunker in einen Neue-Musik-Escape-Room verwandelt.6 Philine Pastenaci und Lucas Gérin sind dagegen mit ihrem Projekt Am unteren Rand – Brückenmonologe zu denjenigen gegangen, die normalerweise vom digitalen Raum ebenso wie von Kunst und Kultur ausgeschlossen bleiben, indem sie Drogensubstituierten und Wohnsitzlosen Musik- und Tanzworkshops anboten.
Digital oder analog, lokal oder transnational: Jedes Projekt sucht sich seine eigenen Orte, seine Präsentationsformen, seine Beteiligten. So entstehen neue Allianzen, über Genre- und Ländergrenzen hinweg, die sich wohltuend abheben von nationalistischen und anderen Verengungen und damit Antworten bereithalten im Hinblick auf die Verfasstheit der vernetzten Welt, in der jeder Ort ohnehin mit jedem anderen verbunden ist. Bestes Beispiel dafür ist das Stück Böse Frauen, dessen Titel auf Theater- und Opernfiguren anspielt – eine Hommage an Maria Kalesnikava, aber mit Beteiligten aus aller Welt. Belarus, Peru, Ungarn, Namibia, Ukraine, Ägypten, China: „Böse“ Frauen, die wegen ihrer politischen Aktivitäten eingesperrt werden, gibt oder gab es in all diesen Ländern. Genau darum geht es in diesem Stück.