Heft 1/1999 - Translocation


the (w)hole of babel

Magische Geografien des Globalen

Hito Steyerl


Anfang der zwanziger Jahre schreibt Franz Kafka eine rätselhafte Notiz: »Was baust Du? Ich will einen Schacht graben. Es muß ein Fortschritt geschehen. Zu hoch oben ist mein Standort. Wir graben den Schacht von Babel.«1 Das Erstaunliche an Kafkas Fragment ist die Verwandlung der Metapher des Babelturms in das Bild eines Lochs im Boden. Statt der Errichtung einer monumentalen Präsenz wird die aktive Erschaffung einer Absenz gefordert: Es muß etwas ausgegraben werden, um die Dinge voranzutreiben und einen Fortschritt zu erzielen. Bekanntlicherweise endete der Bau des Babelturms mit einem Desaster. Die allen Menschen gemeinsame Sprache ging verloren, und verschiedene Völker zerstreuten sich in alle Winde. Kafkas verstörendes Ausgrabungsprojekt deutet jedoch darauf hin, daß der alte Menschheitstraum von universaler Kommunikation und Verständigung eher in einem Loch als in einem Turmbau verwirklicht werden kann. Beide Konstruktionen liefern jedoch völlig unterschiedliche Ergebnisse. Ein Turm bietet einen erhöhten Standort, möglicherweise einen, der zu hoch ist, um einen Fortschritt zu ermöglichen. Von dort aus kann ein Ausblick erfolgen, ein Überblick findet statt. Ein unterirdischer Gang hingegen eröffnet keinen Überblick, höchstens die Perspektive darauf, eine Verbindung herzustellen.

In der Erzählung »Beim Bau der Chinesischen Mauer«2 folgt Kafkas Konstruktion des Babelturms einem noch komplizierteren und verwirrenderen Entwurf: Die chinesische Mauer soll das Fundament des neu zu errichtenden Turms bilden. Kafkas Erzähler findet diese Pläne unbegreiflich und fragt sich, wie denn eine Mauer als Fundament für einen Turmbau genutzt werden könne, zumal die Mauer selbst auch noch große Lücken aufweise. Somit kann der Bau seinen Zweck, nämlich die nomadischen Nordvölker abzuhalten, auch gar nicht erfüllen. Er erfüllt hingegen einen anderen Zweck, nämlich ein Gefühl organischer Einheit, ja gar der Blutsverwandtschaft unter den bauenden Chinesen hervorzurufen. Der Turm, der das Projekt universaler Verständigung verwirklichen soll, erhebt sich also auf einem Fundament partieller Abgrenzungen, die unterirdisch fortwirken.

In Kafkas unterschiedlichen Konzeptionen des Babelturms werden eine Reihe von Gegensätzen entworfen: der Turm gegenüber dem Schacht, also eine erhöhte Perspektive gegenüber einem unterirdischen Standort, eine übergeordnete Position gegenüber einer erniedrigten. Des weiteren stehen sich Mauern und Lücken gegenüber; also Anwesenheiten gegenüber Abwesenheiten. Darüber hinaus stellt der Text eine Reihe geografischer Unterscheidungen wie Nord und Süd, sowie Ost und West bereit und unterscheidet zuletzt auch zwischen Angehörigen des Volkskörpers undnomadischen Nordvölkern. Und schließlich wird auch die Möglichkeit einer anderen, unterirdischen Art der universalen Kommunikation angedeutet.

Teilkonstruktionen

Das sonderbare Konzept des Teilbaus wurde Anfang der neunziger Jahre Wirklichkeit, zwar nicht in China, aber zum Beispiel in Berlin. Dort nahmen die Lücken der Berliner Mauer über den Zeitraum eines Jahres immer mehr zu, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Aber während die klaren binären Unterscheidungen zwischen Ost und West auf der Oberfläche abgetragen wurden und Vorstellungen einer neuen globalen Ordnung wichen, entstanden auf lokaler Ebene sofort neue unklare und einander überschneidende Abgrenzungen. Die Unterscheidung zwischen Deutschen und dem Rest übernahm fast alle Konnotationen, die bis dahin mit dem Ost-West-Gegensatz in Verbindung gebracht worden waren: Modernität gegen Unterentwicklung, Demokratie gegen (meist orientalische) Despotie, oder Flexibilität und Toleranz gegen statischen Fundamentalismus. Sie funktionierte als eine Spiegelfechterei der Idiosynkrasien, um die deutsche Identität auf gewaltsame Weise neu zu bestimmen.

Um auf Kafkas Bild zurückzukommen, ließe sich sagen, daß einerseits der babylonische Traum von universaler Verständigung durch neue Visionen global vereinheitlichter Kommunikation eine Neuauflage erfuhr. Deren Fundamente jedoch ruhten weiterhin auf einem zersplitterten Fundament lokaler Gegensätze und Teil-Abgrenzungen, die geografische Orientierungen sowie rassistische Unterscheidungen zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und seßhaften Deutschen herstellten. Während eine erhöhte Perspektive auf die weltweiten Veränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nunmehr durch Globalisierungstheorien und Diskussionen über neue technologische Mittel universaler Kommunikation eingenommen wurde, sah die Lage aus der von Kafka vorgesehenen tiefer gelagerten Perspektive anders aus: Von diesem Blickwinkel aus traten das Fortwähren von partiellen und brüchigen Grenzen und komplizierte binäre Konstellationen von Abwesenheit und Präsenz in den Vordergrund.

Digitaler Orientalismus

Eine ähnliche Verteilung geografischer Gegensatzbildungen liegt auch der Entwicklung der einzigen Sprache zugrunde, die heutzutage als universal betrachtet werden kann, nämlich dem binären Code. Bei genauerer Untersuchung der Entwicklung des Codes durch Georg Wilhelm Leibniz am Ende des 17. Jahrhunderts tritt ein seltsamer digitaler Orientalismus zutage.3 Um zu beweisen, daß seine Erfindung tatsächlich dazu geeignet war, die universalen Prinzipien der Metaphysik und der Wissenschaft abzubilden, verglich er sie mit den chinesischen Symbolen des »I Ging«, des sogenannten Buches der Wandlungen. Indem Leibniz nun die geraden Striche der Symbole mit Einsen gleichsetzte und die durchbrochenen mit Nullen, gelangte er fälschlicherweise zu der Auffassung, daß beide Systeme identisch seien und den abstraktesten Ausdruck universaler Prinzipien darstellten. Auf diese Weise spiegelte Leibniz einfach seinen Code in demjenigen des »I Ging« und begründete somit dessen universale Gültigkeit.4

Ueno Toshiya hat einen solchen Spiegelungsvorgang als eine Bildermaschine beschrieben: Durch die Reflexionen in halbdurchlässigen Spiegeln haben Westler und andere immer wieder eine immer schon illusionäre östliche Kultur verkannt oder mißverstanden, während sie gleichzeitig sich selbst betrachteten. Und er bemerkt weiters, daß die Projektion binärer Gegensätze auf die geografischen Positionen von Ost und West ein Bündel neuer Stereotypen in Szene setze.5

Ein bemerkenswertes Exemplar dieser Stereotypen ist das immer wieder auftauchende Bild eines »Universalen Fremden«, einer Person, die, obgleich sie einem gänzlich anderen Kulturkreis angehört, dennoch universale Werte zum Ausdruck bringt. In diesem Bild finden sich inkompatible Gegensätze vereint: Die Vorstellung eines allgemeingültigen Wertverbundes wird ausgerechnet durch die gegensätzliche Vorstellung eines komplett Unbekannten vermittelt. Die Regel kommt über ihre Ausnahme zum Ausdruck. Dieses Stereotyp funktioniert wie ein Interface, also ein Zwischengesicht, um das (ideologische) Verhältnis zwischen dem Universalen und dem Partikularen, neuen und alten Codes sowie dem Globalen und dem Lokalen zu kontrollieren.6

Zu Leibniz\' Zeiten nahmen auch ChinesInnen diese Rolle in der europäischen Einbildung ein. Wegen ihrer angeblichen Künstlichkeit und Abstraktheit dienten chinesische Zeichen überdies als Modell einer neu zu entwickelnden Universalsprache. Auch das Hebräische kam als Modell einer universalen Sprache in Betracht. Viele Experten waren davon überzeugt, daß es sich beim Hebräischen um die Ursprache handle, deren Verständnis mit der Katastrophe von Babel zunichte gemacht worden war. Dadurch wurde ein starker kultureller Philosemitismus geweckt, der allerdings völlig bedeutungslos war, als es um die Frage der Wiederzulassung von Jüdinnen und Juden in England ging.7 Seit Ende des 13. Jahrhunderts waren sie aufgrund religiöser Vorurteile von dort verbannt worden. Obwohl ihnen der Besitz einer universalen Sprache zugeschrieben wurde, blieben sie dennoch von der gesellschaftlichen Teilnahme ausgeschlossen. Der symbolische Philosemitismus und die Identifikation von Jüdinnen und Juden mit »Universalen Fremden« hatten keinerlei Einfluß, wenn es darum ging, ihre reale Abwesenheit in eine Anwesenheit zu verwandeln.

Universale Fremde

Im Gegensatz zu OstasiatInnen, die selten realiter in Erscheinung traten und in weiter Ferne blieben, galten Jüdinnen und Juden als »Orientals within«.8 Das antisemitische Stereotyp entwickelte sich zu einer wirkmächtigen Allegorie eines globalen kapitalistischen Netzwerks. Wie Peter Cohen schreibt, dienten Stereotypen von Jüdinnen und Juden zur Darstellung ökonomischer Veränderungen und der Umstrukturierung von einer feudalen Wirtschaftsform zum bürgerlichen Kapitalismus.9 Die Metaphern der unsichtbaren Hand, des Vampirs und des Parasiten verliehen den dynamischen und destruktiven Seiten des Kapitalismus eine Gestalt und verdeckten seine Widersprüche hinter der Maske von Menschen, die zur selben Zeit ein Teil moderner Gesellschaften waren und dennoch nicht als zugehörig empfunden wurden.10 Der wandernde Jude wurde so zum Symbol einer unbehinderten Zirkulation von Kapital und der Entfremdung und Wurzellosigkeit moderner Intellektueller.

In Fritz Hipplers infamem Propagandafilm »Der Ewige Jude« wird die jüdische Weltverschwörung durch Trickeffekte dargestellt: »bewegliche Pfeile [werden] bedrohlich von einem Ende des Globus zum anderen ausgeschickt. Weiß auf dunklem Grund, verzweigen sie sich, bis sie die ganze Welt mit einem gefährlichen Netz überzogen haben: gleichzeitig eine Spinne, die ihr Netz spinnt, und Krebsgeschwür, das von innen her auffrißt, sich ausbreitet und zerstört.« Das entsprechende Bild zur Allegorie bösartiger globaler Netzwerke sind Migrationsströme von Wanderratten, die jedes Hindernis auf ihrem Weg überwinden.

Siegfried Kracauer bezieht sich in seiner Analyse deutscher Kriegspropagandafilme ausdrücklich auf die tricktechnisch animierten Landkarten, vermittels derer die globalen Bewegungen und Ströme inszeniert wurden.11 Die Perspektive dieser Darstellungen lasse auf einen außerordentlich erhöhten Kamerastandpunkt schließen, der Dominanz und Kontrolle suggeriere. Von diesem Standort aus ergebe sich aus den verschiedenen grafischen Netz- und Strömungsmustern eine magische Geografie des Globalen.

Magische Geografien

Die Vorstellungen globaler Netzwerke oder universaler Kommunikationssysteme wurden im Laufe der Zeit zwar unterschiedlich bewertet: als bedrohliche Verschwörung oder aber im Gegenteil als Ausdruck der prästabilierten Harmonie einer Weltkultur. Die jeweiligen symbolischen Konstellationen bedienten sich jedoch desselben Vokabulars: In den Vorstellungen »Universaler Fremder« vermittelten sich die widersprüchlichen Bestimmungen global vereinheitlichter Kommunikation mit den fortwährenden Differenzen und Antagonismen auf lokaler Ebene. All diese divergenten Vorstellungen wurden im Stereotyp der »Universalen Fremden« gebannt, die, wie Slavoj Zizek schreibt, nicht nur einen lebenden Widerspruch darstellten, sondern auch als strukturell deplazierte und »aus den Fugen« geratene Platzhalter des Universalen einstünden.12

Es ist somit auch nicht verwunderlich, daß mit dem Ende des Kalten Krieges zwar eine Neubesetzung dieser Rolle erfolgte, die Inszenierung aber mehr oder minder die gleiche blieb. Obwohl der bislang statische Gegensatz zwischen Ost und West in Bewegung geriet, wurden binäre Gegensätze auf andere, komplexere und zersplitterte geografische Positionen projiziert und somit auch ein neues Bündel von Stereotypen heraufbeschworen. Nur hatten diesmal die Identifikationen in ihr Gegenteil umgeschlagen: Während der »Universale Fremde« früher eine Ausnahme bildete, wurde er jetzt im Gegenteil zum zentralen Symbol der Fragmentierung postmoderner Identitäten.13 Da alle als gleichermaßen entwurzelt und entfremdet angesehen wurden, schienen auch alle eine gemeinsame Ebene zu besitzen. So zumindest stellte sich die Lage aus den oberen Stockwerken der neuen Konstruktion von Babel dar. Von einer erhöhten Perspektive aus gesehen, ordnete sich die individuelle Verstreuung zu neuen Mustern globaler Bewegung. Migrationsströme, Kapitalströme, Daten- und sonstige Ströme14 sehen aus dieser Perspektive gleich aus und ergeben eine neue magische Geografie des Globalen. Von dort aus gesehen, erschienen MigrantInnen und Dislozierte als ideale Personifikationen globaler Mobilität und Entfremdung, als leibhaftige Verkörperungen abstrakter Differenz.

Von einer niedrigeren, lokalen Warte jedoch ergab sich wiederum eine Formation binärer Oppositionen, die ebenfalls nicht neu war: Von dort aus gesehen, waren MigrantInnen und andere Nicht-Deutsche einem labyrinthischen Verbau widersprüchlicher Teilabgrenzungen ausgesetzt und repräsentierten die entfremdenden und entwurzelnden Effekte einer neuen Phase des globalen Kapitalismus. Während also Phantasien idealer MigrantInnen Interfaces bildeten, durch die sich eine neue Oberschicht mit dem Globalen identifizieren konnte, blieb realen MigrantInnen die Rolle lokalen Sündenböcke für die negativen Effekte der Globalisierung.

Interfaces of the West

In Deutschland wurden die beiden möglichen Perspektiven auf eine neue Phase der Globalisierung in zwei widersprüchliche und gegensätzliche Bewegungen übersetzt. Gegenüber real existierenden Nicht-Deutschen brach auf lokaler Ebene eine Welle von Attentaten und Pogromen aus. Den lokalen Ausgrenzungsanstalten gegenüber stand ein neues Interesse an globalen Kulturmodellen, wie Theorien der Hybridität oder des sogenannten Postkolonialismus.

Die Übersetzung der meist aus dem englischen Sprachraum kommenden Theorien in den deutschen Kontext ergab folgende Formel: Alle Kulturen sind hybrid, deswegen sind alle gleich. Offensichtlich funktionierte diese Nivellierung existierender Verhältnisse der Ungleichheit und der Diskriminierung nur aus einer extrem erhöhten Perspektive und weiters nur, wenn alle lokalen und spezifischen Aspekte der zu vergleichenden Kulturen außer Acht gelassen wurden. Bei der Übersetzung dieser Kulturmodelle ins Deutsche handelte es sich also um keine Übertragung in einen deutschen Kontext, sondern um den Anschluß an einen Jargon, der für die universale Sprache des Globalen gehalten wurde. Ein Kalkül entstand, das immer flexiblere und mobilere Kompilationen verschiedener kultureller Zeichen bewerkstelligte, eine delirante Ars combinatoria der Ära des Informationskapitalismus. Seine Funktion imitierte auf verschobene Weise die globale Koordination einer Kette weltweit verstreuter Standorte der Warenproduktion, bei gleichzeitiger Hierarchisierung einer neuen Form internationaler Arbeitsteilung. In den kulturellen Zentren hingegen rekombinierte eine Klasse globaler SymboltechnikerInnen die kulturellen Rohstoffe von den Peripherien, und veredelte sie zu Bausteinen raffinierter Bedeutungsketten und kryptischer Codes, die wirkmächtige Werkzeuge der Interpretation, der Einbildung und des symbolischen Eingriffs darstellten und sich ihrerseits in Hierarchien des Zugangs und der Verfügungsgewalt über die symbolischen Mittel niederschlugen.

Als Idealbesetzung des neuen »Universalen Fremden« fungierten meist Angehörige von Minderheiten aus dem englischen Sprachraum beziehungsweise solche, die dafür gehalten wurden. Ihre Artefakte funktionierten als halbdurchlässige Spiegel der Widersprüche und Umbrüche eines sich neu formierenden Westeuropas und als Interfaces einer lokalen Dominanzkultur, die auf internationaler Ebene konkurrenzfähig bleiben wollte.

Die Neuauflage des alten Stereotyps des »Universalen Fremden« führte zu interessanten Verwicklungen und der Errichtung neuer kultureller Hierarchien des Geschmacks und der Distinktion, die den alten binären Konzepten wiederum stark ähnelten. Eine neue Unterscheidung wurde eingeführt, nämlich diejenige zwischen globalen und lokalen Minderheiten. Während erstere ein Identifikationsmodell mit einem neuen Paradigma globaler Kultur bildeten und für fähig gehalten wurden, deren mobile und flexible Eigenschaften auszudrücken, wurden zweitere für hoffnungslos rückständig, archaisch, primitiv, essentialistisch, fundamentalistisch und folkloristisch gehalten. Unterhalb der globalen Kulturkonzeptionen entstand also ein weiteres unterirdisches Fundament binärer Gegensätze, diesmal zwischen globalen und lokalen Minderheiten oder idealen und realen MigrantInnen. Auf der anderen Seite benutzen zunehmend auch Minorisierte dieselbe Spiegelkonstruktion, und versuchen mit Hilfe dieses imaginären Apparats die Zuschreibungen zu ihren Gunsten zu wenden, indem sie die Position des »Universalen Fremden « zu okkupieren suchen.15

Doch während die magische Geografie des Globalen duch Pfeildiagramme weltweiter Strömungsbewegungen und den passenden Interfaces hybrider KosmopolitInnen dargestellt wurde, ergab sich aus einer dominanten Perspektive auf diese translokalen Organisationen eine magische Geografie der Umstrukturierung lokaler urbaner Räume, die neuerliche geografische Gegensätze und Abgrenzungen hervorrief, wie etwa die Unterscheidung zwischen der Stadtmitte und depravierten Ghettos am Stadtrand. Von oben gesehen, wurden die internationalistischen Zusammenschlüsse von Minorisierten als subkulturelle Moden reinterpretiert, die männlich dominierte Phantasien multinationaler Kleinkrimineller in den Vordergrund stellten und die internationalistischen Bestrebungen in kulturellen Ghettos reterritorialisierten. Die kulturelle Repräsentation dieser Zusammenschlüsse wird daher ein umkämpftes Territorium bleiben, und unterschiedliche Perspektiven darauf werden wiederum bestimmte Formen geografischer Orientierung, binärer Oppositionen und hierarchischer Verhältnisse ergeben. Von einer erniedrigten Perspektive aus eröffnet ein solcher Begriff jedoch einen Raum für Auseinandersetzungen oder gar ein Loch; seine größte Bedeutung liegt darin, Leute verschiedenster Hintergründe punktuell in Verbindung zu setzen, um die spezifischen und lokalen Fundamente der Ausgrenzung zu unterminieren.

Kafkas rätselhaftes Konstrukt des Babelturms wird auf neuer Ebene fortgetrieben, eine Konstellation gleichzeitiger Verwirklichungen und Verunwirklichungen des babylonischen Traums von universaler Verständigung. Neue Codes von globaler Bedeutung werden in lokale geografische und soziale Abgrenzungen übersetzt. Eine Universalsprache, die, oberflächlich gesehen, Grenzen zu überwinden scheint, erschafft gleichzeitig untergründige Binäroppositionen und errichtet ein System von Teilmauern, das Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten inszeniert und ein Stimmengewirr des Globalen einem zunehmend tieferen Schweigen gegenüberstellt.

Am Ende seines Werkes »After Babel« schreibt George Steiner: »Die Kabbalah, in der die Frage Babels und des Wesens der Sprache so nachdrücklich untersucht wird, kennt einen Tag der Errettung, an dem Übersetzung nicht mehr erforderlich erscheint. Alle menschlichen Sprachen werden wieder in die durchscheinende Unmittelbarkeit der verlorenen Ursprache Eingang finden, welche Gott und Adam gemeinsam war. [...] Aber die Kabbalah kennt auch einen eher esoterischen Ausgang. Sie verzeichnet die zweifellos häretische Auslegung, daß ein Tag kommen werde, an dem Übersetzung nicht nur überflüssig erscheint, sondern unerdenklich. Die Worte werden sich gegen die Menschen auflehnen. Sie werden die Knechtschaft der Bedeutung abschütteln. Sie werden \'nur sich selbst meinen, wie tote Steine in unse-ren Mündern\'. In beiden Fällen werden Männer und Frauen für immer von der Last und dem Glanz der Ruine von Babel befreit worden sein. Aber welches, so läßt sich fragen, wird das größere Schweigen sein?«16

 

 

Für Diskussionen und Hinweise danke ich:
Encarnacion Gutierrez Rodriguez, Stephan Gregory und insbesondere Birgit Hussfeld.

1 Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1970, S.289ff.

2 Ebd. S.291; siehe dazu auch Meng Weiyans Analyse von Kafkas Chinabild als »Sprachfigur der jüdischen Diaspora«, in Weiyan Meng: Kafka und China. München 1986, S.20 und 24ff.

3 Manfred Fischer: Leibniz und die chinesische Philosophie. Conceptus XXII (1988), Nr. 56, S.13f.

4 Hans Breuer: Kolumbus war Chinese. München 1980, S.33.

5 Ueno Toshiya: Japanimation and Techno-Orientalism. In: Documentary Box 9, http://www.city.yamagata.jp/yidff/ff/box/en

6 Siehe dazu Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/Main 1995, S.104ff.

7 D. S. Katz: Philosemitism and the Readmission of the Jews to England (1604-1655), Kapitel 2.

8 David Morley, Kevin Robbins: Techno-Orientalism and Japan Panic. In: Spaces of Identity. London 1995, S.156.

9 Peter Cohen: Gefährliche Erbschaften - Studien zur Entsdtehung einer multirassistischen Kultur in Großbritannien. In: N. Räthzel, A. Kalpaka (Hg.): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. 1994, S.88f.

10 Regine Michal Friedman: Juden-Ratten - von der rassistischen Metonymie zur tierischen Metapher. In: Frauen und Film 47 (September 1989), S.32.

11 Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Frankfurt 1995, S.327.

12 Slavoj Zizek: Ein Plädoyer für die Intoleranz. Wien 1998, S.89.

13 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/Main 1995, S.124f.

14 Siehe auch Stephan Gregory: Land der Ströme, Land der Burgen, http://www.art-bag.net/hilfe

15 Siehe auch Mark Terkessidis: Neorassismus revisited - Partikulare Identifizierung und universalistische Politik. In: 17°C - Zeitschrift für den Rest 17 (Februar, März, April 1999), S.6-14.

16 George Steiner: After Babel. Oxford University Press 1975, S.474.