Heft 2/2004 - Netzteil


Die Globalisierung ist ganz in der Nähe, und sie ist jetzt

Basare als Gradmesser für den Stand der Transformation zur freien Marktwirtschaft

Krystian Woznicki


Bei meinem Marrakesch-Besuch im Oktober 2002 fand ich mich alsbald auf dem legendären Marktplatz Djemaa el Fna wieder. Ich ging von Stand zu Stand und blieb schließlich vor einem T-Shirt mit dem Aufdruck »Hard Rock Café Marrakech« stehen. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon seit einigen Tagen in der marokkanischen Großstadt und wollte unbedingt meine Wissenslücke füllen, also fragte ich den Verkäufer neugierig, wo sich das Café denn befinde. »Wie?« fragte er zurück, sich ein bisschen dumm stellend. »Na«, sagte ich, »existiert das »Hard Rock Café Marrakech« überhaupt?« Er sagte: »Ja, sicher!« »Und wo?« fragte ich, jetzt etwas ungeduldig. Mit einem breiten Grinsen erwiderte er: »Hier, auf dem T-Shirt!« Ich kaufte das T-Shirt sofort, wohl wissend, dass in Marrakesch im April 1994 der Welthandelsvertrag unterzeichnet wurde – ein Vertrag, der die Globalisierungsachse nachhaltig verschob. »Die freie Welthandelsordnung wurde vorrangig, die Agenda 21 degradiert – und kaum einer merkte den Widerspruch zwischen den beiden Weltplänen.«, wie Hermann Scheer in diesem Zusammenhang notierte.1 Das »Hard Rock Café Marrakech«-T-Shirt schien mir für diese Widersprüchlichkeiten beispielhaft: Obwohl die Zweigstelle einer der weltweit größten Ketten2 in Marrakesch nicht existiert, ist ihr Image dort überaus präsent.

Es wäre nahe liegend, all die an den Rändern des Weltsystems verbreiteten Markenfälschungen auf ihr symbolisches Kapital hin zu untersuchen. Schließlich haben sie lange vor der semiotischen Kriegsführung der MarkenaktivistInnen3 die Logik des globalen Kapitalismus zu reflektieren und zu kommentieren begonnen. Statt deren Warenstatus sollen jedoch vor allem die Kontexte, in denen Copies und Fakes zirkulieren, untersucht werden. Exemplarisch in diesem Zusammenhang ist der Basar, ein Begriff aus dem Persischen, der einen Markt, eine Geschäfts- oder Gewerbestraße bzw. -viertel bezeichnet und vom Osteuropahistoriker Karl Schlögel mit dem Status des Indikators bedacht worden ist. So sind Basare in den ehemals sozialistischen Ländern seiner Auffassung nach Gradmesser für den Stand der Transformation hin zur freien Marktwirtschaft4: Wo der Basar verschwunden ist, ist der Prozess abgeschlossen, wo der Basar noch da ist, wird er noch gebraucht. Man sollte Schlögels These jedoch noch allgemeiner fassen und den Basar als Gradmesser der Globalisierung begreifen. Warum, das zeigt der Post-Saddam-Irak.
Gleich nach dem Denkmalsturz von Bagdad im April 2003 war vor allem die Hauptstadt des arabischen Landes zu einem Symbol des Aufbruchs geworden: Die Diktatur des Saddam Hussein war überwältigt, eine neue Zeit brach an, die im Zeichen der Freiheit stehen sollte. Die Schlagworte waren Demokratie (der US-Verteidigungsminister verglich den Denkmalsturz mit dem Fall der Berliner Mauer) und freier Markt. Neben Global Playern, die sich dort wie auf einer Weltausstellung positionierten, waren auch individuelle Unternehmer nach Bagdad aufgebrochen – angelockt von einer Mischung aus Abenteuerlust, Pioniergeist und Risikofreude.

Zum Basar für Informationen avancierten schnell jene Hotels, die auch schon während des Krieges von ausländischen Gästen bewohnt worden waren. Jetzt trafen hier Geschäftsleute auf Gleichgesinnte, Konkurrenten, potenzielle Partner und Romanfiguren wie Leggy Starlitz, einen »kleinen Gangster und internationalen Schmuggler, den man vielleicht am besten einen ›kleinbürgerlichen Kriminellen‹ nennen könnte«, wie der in Texas ansässige Schriftsteller-Futurist Bruce Sterling seine Schöpfung einst bezeichnete.5 Mythen ranken sich um Hotels, die meist Unterkünfte der gehobenen Preisklasse sind, nicht selten jedoch auch Etablissements, die während einer militärischen Operation über Nacht von einer schäbigen Ein-Dollar-pro-Nacht-Kaschemme zur technologisch hochgerüsteten Sendestation mutieren: Gestern noch ein heruntergekommenes Loch mit unzureichender Elektrizität und Energiezufuhr, in einer Ortschaft, die auf der Landkarte vielleicht noch nicht einmal verzeichnet ist, und in einer Gegend liegt, die abgelegen und unerschlossen ist. Heute, mit Hilfe von Organisationen wie der European Broadcasting Union, zum medialen Knotenpunkt im globalen Informationsfluss avanciert. Doch was reflektiert dieser Gradmesser des Übergangs, wenn er trotz Systemkonversion unter ständigem Beschuss steht?6

Neben den Hotels prägten die Straßen von Bagdad das Image des Post-Saddam-Irak als Ausgrabungsstätte des Kapitalismus: Bilder von ratternden und stinkenden Straßenmärkten, auf denen Händler unter Schutt, Asche und Abfall ihre Stände aufbauten, Gebrauchtwarenmärkte, die abends wie ein Vergnügungspark leuchteten. Während der »Spiegel« das dortige Angebot mit der Alliteration »Kühlschrank und Kalaschnikow«7 umschrieb, gab ein deutscher Unternehmer unverhohlen zu verstehen: »Bagdad ist attraktiv für Geschäftsleute aus dem Ausland, denn der Handel ist bis auf weiteres steuerfrei, hier kann man für viel Geld loswerden, was auch zuhause gut funktioniert: BMWs und Satellitenschüsseln.«8 Als Naomi Klein festhielt, dass »das Land quasi über Nacht und im Dunkeln zu einem Teil des freien Marktes wird«9, traf sie einen wichtigen Punkt: Die Bedingungen der Transformation erschienen als eine Frage von Transparenz und Verschleierung, schließlich stand Bagdad nun für einen Wandel, der sich der Dimension des Sichtbaren entzog: Der Basar war hier entsprechend als Schwarzmarkt zu verstehen, als Knotenpunkt einer Schattenwirtschaft, deren Ausmaß der Wertschöpfung wenn nicht ungreifbar, so doch äußerst schwer abzuschätzen ist.10 Was den Post-Saddam-Marktplatz darüber hinaus vom herkömmlichen Basar unterscheidet, ist, dass er die Nische eines Systems in ihrer räumlichen Materialität darstellt, das Bruchstellen vor allem dort aufweist, wo die Strukturen der (transnationalen) Wirtschaft und des (neokolonialen) Staates unter den Bedingungen einer Nachkriegs-/Wiederaufbauperiode ineinander greifen. Diese steht zwar im Zeichen eines Übergangs von einer Diktatur zu einer Demokratie und damit zur freien Markwirtschaft, wird jedoch von einem Guerilliakrieg überschattet, der kein Ende zu nehmen scheint.11 Ein Prozess also, der sich auf einer temporalen Achse nicht so einfach auf einen Anfangs- und Endpunkt fixieren lässt, ebensowenig wie auf räumliche Koordinaten.12
Der Basar als Gradmesser für den Stand des Übergangs zeichnet sich damit durch eine im Jameson’schen Sinne schizophrene Eigenschaft13 aus, die Alexander Osang mit Blick auf die Wiedervereinigung von Deutschland wie folgt umrissen hat: Sie ist ganz in der Nähe und sie ist jetzt.14

 

 

1 Vgl. Hermann Scheer, Atlas der Globalisierung, Berlin 2003
2 Zu Beginn der siebziger Jahre eröffneten Isaac Tigrett
und Peter Morton in London das erste Hard Rock Café und setzten damit den Startschuss für ein »globales Phänomen«: Ganze 108 Filialen sind mittlerweile in mehr als 41 Ländern
eröffnet worden. Eine Expansion, im Zuge derer zuletzt auch Zweigstellen in Moskau und Nassau etabliert werden konnten; Catania, Porto Allegre und Kuwait City sollen folgen. Mit Slogans, die gleichermaßen an anarchische Instinkte sowie »die guten alten Tage« appellieren, schreitet die Operation Hard Rock voran und zeichnet sich dabei vor allem durch geschichtsträchtige Inszenierungen aus – die Interieurs der
Cafés werden als nostalgische Gedächtnishallen der Musikgeschichte dekoriert.
3 Naomi Klein, No Logo! München 2001
4 Karl Schlögel, Basar Europa, in: ders.: Promenade in Jalta
und andere Städtebilder, München 2001
5 S. Becht, M. Friedrich und H. Kettwig, In der Gegenwart
angekommen. Ein Gespräch mit dem SF-Autor und
Cybergrünen Bruce Sterling, in: Telepolis, 22. März 2001; http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/7162/1.html/
6 Powerful blast shatters Baghdad hotel, CNN, 17. März 2004
7 Kühlschrank und Kalaschnikow, in: Der Spiegel, 43/2003
8 Klaas Glenewinkel, Boom in Bagdad,
in: Berliner Gazette, 24. September 2003
9 Naomi Klein, Downsizing in Disguise,
in: The Nation, 5. Juni 2003
10 Im Gegensatz dazu gehörten Märkte an der Grenze zu Deutschland bis Mitte der neunziger Jahre zu den
umsatzstärksten Unternehmen in Polen, wie Uwe Rada,
der sich übrigens auch auf Schlögel bezieht, anmerkt.
Vgl. Uwe Rada, Zwischenland, Berlin 2004, S.88-102.
11 Tony Karon, America’s New War in Iraq,
in: Time, 19. Juni 2003
12 Low intensity conflicts, Wiederaufbauzonen und War-Against-Terror-Einsatzgebiete zerstreuen sich über den gesamten
Erdball, ein Zustand, den der Politologe Herfried Münkler mit dem Dreißigjährigen Krieg gleichsetzt. Vgl. Herfried Münkler, Die Neuen Kriege, Berlin 2002. S. 9-10
13 Vgl. Fredric Jameson, Postmodernism, or The Cultural
Logic of Late Capitalism, Durham 1991
14 Alexander Osang, Ankunft in der neuen Mitte, Berlin 1999