Heft 2/2004 - Rip-off Culture


Jäger und Sampler

Zur Problematik transkultureller Übernahmen in der Gegenwartsmusik

Christian Höller


Kuo Ying-nan, ein 76-jähriger taiwanesischer Bauer, war nicht wenig erstaunt, als ihn 1995 ein Freund aus Taipeh anrief. »Hey, deine Stimme ist gerade im Radio zu hören!«, und in der Tat war es Kuos Gesang, der auf dem Welthit »Return to Innocence« des rumänisch-deutschen Musikproduzenten Michael Cretu, besser bekannt unter dem Namen Enigma, ertönte. Ohne dass Kuo davon gewusst, geschweige denn seine Zustimmung gegeben hatte. Die lange Reise des Vokalparts war über mehrere Instanzen verlaufen, wie sie heute prototypisch sind für globale Austausch- und Transferprozesse: Auf Einladung französischer (und taiwanesischer) Kulturbehörden war 1988 ein Gruppe taiwanesischer MusikerInnen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit – Kuo gehört der Gruppe der Ani an – durch mehrere europäische Länder getourt; eine daraus resultierende CD inklusive früherer musikethnologischer Aufnahmen bereitete die polyphonen taiwanesischen Gesänge für den westlichen Tonträgermarkt auf; und so konnten MusikerInnen wie Cretu alsbald damit beginnen, sich an Bits and Pieces dieses Sampling-Pools zu bedienen. Wobei Cretus Musikverlag wohlweislich 30.000 Francs Lizenzgebühr an das französische Maison des Cultures du Monde zahlte, ohne dass dieses Geld jemals Kuo, einen der gesampelten Künstler, erreicht hätte.
Diese Geschichte, die im Übrigen ein langwieriges juridisches Nachspiel nach sich zog und mittlerweile außergerichtlich geregelt wurde, ist keine Seltenheit. Timothy Taylor1, der sie detailliert aufgearbeitet hat, verweist zunächst auf die kontrapunktischen Momente im globalen Kultursampling: etwa auf den massiven Einspruch der Enigma-AnhängerInnen, deren Ansicht nach die Stimme Kuos niemals die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen hätte, wenn nicht Cretus Genie sie bekannt gemacht hätte; oder auf die Selbstermächtigungsgeste eines »subalternen« Musikers, der unerwartet sein Recht auf die verwendeten Aufnahmen geltend macht und den juridischen Weg gegen die westliche Musikindustrie beschreitet. Darüber hinaus geht es laut Taylor aber um eine viel umfassendere kulturelle Symptomatik: Für Enigma und andere westliche MusikerInnen fungieren »ethnische Samples« in erster Linie als Rohstoffe aus einem exotischen Kulturfundus, der noch nicht von Technologie und Moderne verunreinigt wurde – deshalb auch der programmatische Songtitel »Rückkehr zur Unschuld«. Dass diese verklärende Sicht mit einem ausbeuterischen Zugriff auf die beschworene Unschuld einhergeht, darin kommt ein zentrales Paradoxon popmusikalischer Globalisierung zum Ausdruck.
Gleiches gilt für die Verschleierungstaktik, im »Indigenen« – egal aus welchen Sampling-Quellen es stammt – den scheinbar naturwüchsigen Rückhalt eines spirituellen Weltbewusstseins zu sehen.
Auch der Musikethnologe Steven Feld weiß solche Geschichten zu erzählen. Etwa jene von der Kopie eines in den sechziger Jahren in der Zentralafrikanischen Republik aufgenommenen Vokal- bzw. Pfeifenparts, der 1973 auf Herbie Hancocks Jazzrock-Hit »Watermelon Men« wieder auftauchte. Weder ist dieses Soundelement aus der Musik der Ba-Benzélé-Pygmäen bei Hancock gecredited, noch konnten die ursprünglichen Produzenten am Erfolg des Stückes in irgendeiner Weise partizipieren – was Hancock mit der Legitimierungsfloskel »a brothers kind of thing – a thing for brothers to work out« abtut.2 Aber auch jenseits des afroamerikanischen Musikorbits, für
das immer wieder Ansprüche einer diasporischen Gegenmoderne erhoben werden, erfreuen sich Samples aus der Musik zentralafrikanischer Regenwaldvölker großer Beliebtheit. So beispielsweise in den Produktionen des französischen Duos Deep Forest, zu deren wichtigsten Ressourcen ethno-musikwissenschaftliche Aufnahmen zählen. So dienen die Pygmäen für Deep Forest (und andere) als geradezu zynische Projektionsfläche: »Somewhere deep in the jungle are living some little men and women. They are your past; maybe they are your future«3, ‘heißt es bei ihnen.
Besonders bezeichnend ist die Geschichte des Stücks »Sweet Lullaby«, die ebenfalls von Steven Feld rekapituliert wird.4 In den Jahren 1969/70 hatte der Musikethnologe Hugo Zemp Aufnahmen auf den pazifischen Salomon-Inseln gemacht, darunter ein von einer Stammesangehörigen der Baegu namens Afunakwa gesungenes Wiegenlied. 1990 auf einer UNESCO-CD wieder veröffentlicht, fand das Vokal-Sample unter anderem den Weg in das Studio von Deep Forest. Angereichert mit süßlichen Synthesizer-Schwaden und einem gemächlich schunkelnden Dance-Beat, mutierte das A-cappella-Stück zu »Sweet Lullaby«, dem ersten großen Welthit von Deep Forest und in der Folge Hintergrundmusik unzähliger Werbespots. Nachdem Zemp, der die Aufnahme zuallererst in den Audiohorizont des Westens gebracht hatte, Einspruch gegen die Verwendung dieses und anderer Samples erhob, entspann sich auch hier eine lange Auseinandersetzung um den legitimen Einsatz ethnischen Soundmaterials, die bis dato zu keiner einhelligen Lösung geführt hat. Während die eine – kommerziell erfolgreiche – Seite vorschützt, ihre respektvolle Pflege der großen Weltkulturtraditionen fördere die globale Harmonie5, kann die andere – wissenschaftlich-kritische – Seite allenfalls mit ethisch verbrämtem Kopfschütteln kontern: dass dieser angebliche Respekt nichts anderes als die primitivistische Karikatur alter kolonialer Haltungen ist; dass die Sample-Jagd schlichtweg keine Urheberrechtsansprüche ernst nimmt; dass schließlich kein Cent des Profits aus der kulturindustriellen Verwertung an die gesampelten Kulturen zurückfließt. All dies verdeutlicht eine Machtkonstellation, innerhalb derer das luftige Gerede von der angeblich demokratisierten bzw. demokratisierenden Weltmusik wie blanker Hohn wirkt.
Für diesen Befund spricht auch die Tatsache, dass der norwegische Saxofonist Jan Garbarek – und nicht nur er – den besagten südpazifischen Gesang noch 1996 für ein Stück zentralafrikanischer Pygmäenmusik halten konnte, um daraus sein eigenes »Pygmy Lullaby« zu fertigen.6 Die prototypische »Schizophonie« aktueller Musikproduktion, sprich: die Abtrennung einzelner Sounds und Samples von ihren Entstehungs- und Gebrauchszusammenhängen, hat hier eine neue Stufe erreicht. Schließlich hatte Garbarek sein Sample schlicht und ergreifend dem Deep-Forest-Stück entnommen und keineswegs selbst, wie sein Hang zu rituellen Musikformen vermuten ließe, die Reise in die entfernte orale bzw. indigene Tradition angetreten.
Was auch nicht mehr nötig ist, zumal die globalisierte Aufbereitung ethnischer Sounds mittlerweile industrialisierte Formen angenommen hat.7 So sind Konzerne wie Roland oder Spectrasonics heute unter anderem darauf spezialisiert, ganze Sampling-Datenbanken ethnisch oder territorial umrissener Musikkulturen anzulegen. Die Ergebnisse, mit sprechenden Titeln wie »Heart of Africa« oder »Heart of Asia«, bringen abermals den inneren Widerspruch dieser Art von Globalisierung auf den Punkt: Zum einen wird meist nicht viel Aufsehens um die rechtmäßige Abgeltung der Aufnahmen gemacht – oft beschränkt sich dies auf einmalige symbolische (oder gar keine) Zahlungen sowie den anonymen Dank an »the many gifted musicians who contributed to the project«8. Zum anderen werden diese Soundpakete, kontextenthoben und digital geglättet, als Inbegriff authentischer Weltkultur vermarktet – ein ideeller Mehrwert, der vor allem deren NutzerInnen zugute kommt.
Das Flair des vermeintlich Authentischen dient so der Tarnung – nicht von Enteignung per se, aber von möglichen Aneignungen, die in erster Linie »schismo-genetisch« funktionieren. Das musikalische Objekt wird darin immer weiter von seinen vormaligen Quellen abgelöst und in fortwährend flüchtigere Spaltprodukte zerlegt. Ohne dass dabei auf den symbolischen Profit, den diese Quellen mitzugenerieren imstande sind, verzichtet wird. »Telemusik« hat man früher einmal dazu gesagt. »Sampling-Safari« wäre der treffendere Name gewesen.

 

 

1 Vgl. Timothy D. Taylor, A Riddle Wrapped in a Mystery. Transnational Music Sampling and Enigma’s »Return to Innocence«, in: René T. A. Lysloff & Leslie C. Gay, Jr. (Hg.), Music and Technoculture. Middletown, Connecticut, 2003, S. 64–92
2 Vgl. Steven Feld, The Poetics and Politics of Pygmy Pop, in: Georgina Born & David Hesmondhalgh (Hg.), Western Music and Its Others. Difference, Representation
and Appropriation in Music. Berkeley/Los Angeles/London, 2000,
S. 254–279 (Zitat Herbie Hancock, S. 257)
3 Auf dem Intro zum ersten Stück »Deep Forest« der gleichnamigen CD
(550 Music/Epic, 1992), zitiert bei Feld, Pygmy Pop, S. 272
4 Vgl. Steven Feld, A Sweet Lullaby for World Music,
in: Public Culture, 30 (2000), S. 145–171
5 So die Ausführungen von Deep Forest auf ihrer zweiten CD »Boheme«,
die 1995 mit einem Grammy ausgezeichnet wurde; vgl. Feld, Sweet Lullaby, S. 155.
6 Vgl. ebda., S. 159 f
7 Vgl. Paul Théberge, Ethnic Sounds. The Economy and Discourse of World Music
Sampling, in: Lysloff & Gay (Hg.), Music and Technoculture, S. 93–108
8 Vgl. ebda., S. 103