Heft 1/2014 - Lektüre



Jean-Luc Nancy/Daniel Tyradellis:

Was heißt uns Denken?

Ein Gespräch

Zürich/Berlin (diaphanes) 2013 , S. 73

Text: Gislind Nabakowksi


Unter dem Titel Was heißt uns Denken? ist ein Gespräch erschienen, das Daniel Tyradellis im November 2012 mit Jean-Luc Nancy geführt hat. Das schmale Buch ist in acht kurze Kapitel gegliedert. Der Fragende, Philosoph, Kurator und Kittler-Schüler Daniel Tyradellis will dem Philosophen, der sich in aller Bescheidenheit ungern als solcher bezeichnet, immer wieder Statements über „Medien“ abtrotzen. Als durchweg zu lang bzw. also pointillierte Selbstdarstellungen entpuppen sich diese Fragen. Nancy allerdings will keine Suprematie der Medien über die Vorgänge des Denkens zulassen. Der Fragende hakt leider nicht nach, was wissenswert, was notwendig und sogar verlockend am Prozess des Denkens ist. Für Jean-Luc Nancy ist es konstitutiv, sein Denken mit dem Zuhören, dem Lesen und Schreiben zu verknüpfen. Das angestrebte „uns“ ist für ihn mit Tätigkeiten, mit Zusammensein und Zuwendungen verbunden. Wiederholt spricht er von seiner Nähe zu anderen. Eine Gemeinschaft im Denken hatte sich für ihn in der Freundschaft mit Jacques Derrida entwickelt. Konfrontiert war er vereinzelt dennoch mit Schockerlebnissen, die zum Beispiel Lektüren der Schriften von Hegel und Derrida hervorriefen. Doch leider klaffen die Fragen und Antworten zu weit auseinander. Beide Seiten verlieren sich. So wird im Buch gar nicht erfragt, was den Schock ausgelöst hat. Ein Kernsatz des Philosophen zu den Unterschieden sozialer Klassen lautet: „eine Aufgabe von Philosophie besteht auch darin, sich mit den Hemmungen und Hindernissen auseinanderzusetzen, die einen vom Denken abhalten“. Dafür erscheinen ihm Bücher „nur begrenzt geeignet, da sie nur einen bestimmten Ausschnitt der Bevölkerung erreichen“. Nun muss man warten, bis 2014 Nancys grundsätzliche Schrift Das nackte Denken mit Texten aus den 1990er-Jahren bis zum Jahrtausendwechsel erscheint, um weitere Einblicke in seine stets als ungeschützte Handlung deklarierte Philosophie zu erhalten. Daniel Tyradellis ließ obendrein die Gelegenheit ungenutzt, den Philosophen zu seiner Herztransplantation und der kurz darauf einsetzenden schweren Krebserkrankung zu befragen. Im Zeichen dieser Gefährdung schrieb Nancy zumindest kurz darüber in seiner letzten Schrift Äquivalenz der Katastrophen. Nach Fukushima.
Zu den postmodernen Philosophen, in deren Schriften zur Kunst, Literatur oder generell zur Lage des Subjekts in der Welt die politischen und sozialen Implikationen deutlicher als bei Nancy formuliert werden, zählt Jean-François Lyotard, der 1998 an Leukämie verstarb. 1984 versuchte er sogar, den kritischen Umgang mit der Moderne Kindern zu vermitteln. Nancy und Lyotard teilen jedenfalls vieles: den verlorenen Glauben an große Erzählungen, ihr Wissen um den Verlust des Metawissens und die Nähe zur Verletzlichkeit, Körperlichkeit und zum Tod, was beiden sogar als die genuine Voraussetzung der Philosophie erschien.
Beide denken außerdem über die Bedeutung des Begehrens nach dem „Ursprung des Denkens“ nach: Den Satz „in ‚Philosophie‘ ist nämlich philein enthalten – lieben, verliebt sein, begehren …“, schrieb Lyotard im Jahr 1964, also noch vor dem Mai 1968. In der Antike begann sich die Philosophie zu entwickeln, nachdem die Götter stumm geblieben waren. Nachzulesen ist dies nun in Lyotards Wozu philosophieren?. Auch in diesem Buch, das aus Lyotards Nachlass ediert wurde, geht es um die unversöhnliche Praxis des Philosophierens.
Schon im Vorwort erfährt man, dass alle vier Texte, bei denen es sich um Niederschriften von Vorlesungen handelt, einen dezidierten Realitätsbezug beanspruchen. Corinne Enaudeau (Lyotards Tochter) wendet sich damit an eine breite Leserschaft. Demnach ist Philosophie dazu da, die Grenzen zwischen den Lebensbereichen, Disziplinen und Fächern allein schon dadurch, dass sie definiert werden, tendenziell zu überbrücken. Diese narrative Bogenführung ist auf jeden Fall unentbehrlich, um der bedrohlichen „Entknüpfung“ und der Gefahr der abstrakten Verselbstständigung des philosophischen Lehrfachs in den Universitäten entgegenzuwirken. Lyotards Anspruch war, dass PhilosophInnen nie verlernen dürften, „alle zu irritieren“. Sonst würde Philosophie dem Philosophen „zwischen den Fingern zerrinnen“. Diese Idee hält Lyotards Sprache in lebendiger Spannung.
Es macht großen Spaß, die bilderreichen Texte von 1964 zu lesen. Aus den darin enthaltenen Reflexionen heraus begreift man die Anziehungskräfte damaliger Philosophie, welche die Welt nicht bloß interpretieren, sondern verändern wollte, das lebhafte Interesse von KünstlerInnen und StudentInnen daran. Gleich am Anfang erklärt Lyotard das Begehrenswerte eines solchen Denkens. Dort macht er deutlich, dass das Gefühlsleben nicht vom Wirtschaftsleben abgekoppelt sein darf, weil das stets zum Mangel, zu Neurosen und zu politischen Hysterien führt. Damit legte er ebenso die Symbolik der Reden offen, die für beide, Freud und Marx, auf ihre Weise Gültigkeit hatte. Das „Motiv zu philosophieren“ ist für Lyotard „beständig und aktuell“ eine Suche nach Sinn. Narrative Philosophie vollzieht sich in der realitätsnahen Buntheit von Sprachen; sie ist wie ein ewiges Anfangen, ein Austausch von Gründen, Argumenten und Leidenschaften. Das gilt auch für Zeiten der Globalisierung. Der Sinn des Denkens, der im akademischen Betrieb meist in die ferne Antike verfrachtet wird, ist immer „ganz nah“. Erfreulich ist die Distanz von Nancy und Lyotard zu den heutigen Ratgeber- und PhilosophiedarstellerInnen.