Heft 1/2018 - Asoziale Medien?


Es ist zwölf Uhr, ich kauf mir Supreme

Über die Lust der Mädchen-Jungen zu schockieren

Hans-Christian Dany


An der Fassade des Hauses deutet nichts darauf hin, was sich dahinter verbirgt. Nur am Donnerstag stehenden hier Sicherheitsleute, ausschließlich hochgewachsene Afroamerikaner, die den Anfang einer sich die Lexington Avenue hinunterschlängelnden Menschenschlange koordinieren. Bei den Breitschultrigen wird eine Nummer abgeholt, um sich anschließend einzureihen. Wer nicht zum drop will, braucht nicht zu warten, sondern kann das weltweit führende Kaufhaus für Luxusmode einfach so betreten. Gewartet wird nur für Supreme. Denn selbst in New York, wo das Geld wieder in den Himmel wächst, sind es an einem Wochentag dann doch nicht so viele, die sich Hosen für 800 Dollar kaufen.
Die den drop Erwartenden haben sich Zeit genommen, schwänzen die Schule oder erscheinen nicht zur Arbeit, wenn sie überhaupt einer solchen nachgehen. Sie sind meist männlich, selten schon 20, meistens jünger, und die Mehrheit sieht nicht unbedingt reich aus. Was sie wollen, kostet auch nicht so viel wie die Waren, die ansonsten im Dover Street Market verkauft werden.
Ein pickeliger Junge singt „and I wait again“. Und wenn sie endlich an die Reihe kommen, preschen sie, in kleinen Gruppen eingelassen, zum Fahrstuhl. Sie übersehen die in der Cafeteria ihren Tee trinkende Eliza Douglas. Das Supermodel interessiert die Jungs nicht einmal für fünf Cent. Sie wollen nur in den siebten Stock. Dort befindet sich zwischen den Abteilungen von Vetements und Gucci – dem, was gerade das Heißeste war und ist – die Abteilung von Supreme. Frisch wie ein neugeborenes Lamm liegt dort der neue drop und schürt die Erregung bis zum Äußersten.
Verzweifelt telefoniert eine Mutter mit ihrem Sohn. Sie war pünktlich, ihre Nummer war gut, aber „es ist nicht mehr da“. Sie kam zu spät. Mit tränenerstickter Stimme fragt sie ihn, was sie jetzt tun soll. Der drop hat erst vor zehn Minuten begonnen. Wenig später war das Regal leer gekauft und bleibt so bis zum nächsten Donnerstag, wenn um zwölf Uhr der nächste drop fällt. So ein leeres, graues Metallregal zwischen all dem überquellenden Angebot ist ein schönes Bild. In der Branche wird Supremes perfektes Marketing verehrt. In den Metropolen der Überproduktion, wo es viel zu viel gibt, gelingt es Supreme, den Eindruck zu vermitteln, es sei nicht genug vorhanden, weshalb man sich auf das wenige stürzen müsste. Die Illusion des Mangels durch Verknappung ist keine neue Strategie, aber kaum jemand choreografiert sie gerade so gut wie Supreme.
Wenige Stunden vor dem drop, der symbolisch in einem knappen Dutzend ausgewählter Geschäfte weltweit oder temporären Pop-up-Stores mit Codenamen wie Verein Botanischer Gärten stattfindet, lässt die angeblich unabhängige Instagram-Seite Supreme Leaks News durchsickern, was diesmal „gedroppt“ wird. Der Online-Shop öffnet dann exakt um zwölf Uhr, und Tausende stürzen sich auf die Ware oder warten in den besagten Schlangen, bis es so weit ist. Am Nachmittag werden dann die Statistiken geleakt, welcher „Pale Hooded Sweater with Arabic Box Logo“ nach 10 Sekunden ausverkauft war und bei welchem es zwölf Sekunden dauerte. Auf Supreme Leaks wird aber auch diskutiert, dass in diesem Herbst erstmals Anteile des bisher unabhängigen und relativ kleinen Unternehmens an einen Investor verkauft wurden. Wobei die Hauptangst gegenüber dem „sellout“ darin liegt, Supreme als besonderes Produkt zu verlieren. Die kurze, oft nur sekundenlange Verfügbarkeit der Kleidung führt dazu, dass man sich entweder geschickt anstellt und ein T-Shirt für 35 Dollar ergattert oder bei dem kurz nach dem drop einsetzenden Wiederverkauf der Beutestücke ein kleines Vermögen dafür hinlegt.
All das könnte man als pures Marketing betrachten, was es selbstredend auch ist, aber es hat den kaum zu unterschätzenden Vorteil, weniger Müll zu produzieren. Eine Produktivität, die in der Textilindustrie, die der Ölindustrie als dem größten Müllerzeuger knapp auf den Fersen folgt, enorm ist. Eine der Hauptursachen der gigantischen Menge an Textilmüll liegt in der extremen Überproduktion. Viele Hersteller setzen gegenwärtig in den Kaufhäusern nicht einmal 20 Prozent ihrer Produktion vor dem Schlussverkauf ab. Und die restlichen 80 Prozent lassen sich nicht einfach verramschen, ohne die Preise völlig zu ruinieren. Das Überschussproblem wird durch Abverkäufe in der Provinz oder Exporte in Schwellenländer sowie zahllose andere Tricks verschleiert. Am Ende bleibt trotzdem eine Überproduktion von mehr als 30 Prozent unverkaufter Ware als Müll übrig. Wobei diese Zahl noch nicht berücksichtigt, dass es sich bei dem Gros der Verkäufe um unnötig geschürten Bedarf handelt und der Großteil der verkauften Ware von den KäuferInnen nur einmal oder gar nicht getragen wird. Hinzu kommt, dass es sich um auf Verschleiß angelegte Produkte handelt, die buchstäblich nicht halten, was sie versprechen.
Auf diese Arbeit an der ökologischen Katastrophe versuchte das Modelabel Vetements im Herbst 2017 mit einer Aktion in den Schaufenstern des Kaufhauses Saks Fifth Avenue in New York hinzuweisen. Statt den Modellen der kommenden Saison wurde aufgehäuft vorgeführt, was aus der Vergangenheit für gewöhnlich auf dem Müll landet. In einem Interview mit der Financial Times griff Guram Gvasalia, der CEO von Vetements, die Branche wegen ihrer Methoden an und behauptet, dass Vetements sich bemühe, 90 Prozent seiner Produktion abzusetzen. Nun reduziert Vetements sein Angebot nicht ganz selbstlos, sondern aus dem Grund, und daraus wird auch kein Hehl gemacht, dass etwas, das unbeschränkt verfügbar ist, auch weniger begehrenswert ist. Die Verführung durch Unverfügbarkeit forciert Vetements zusätzlich durch eine radikale Hochpreispolitik, die es erlaubt, wesentlich weniger zu verkaufen und immer noch Gewinne zu machen. Vetements kann sich das leisten, da es einen guten Kontakt zu dem, was in der Luft liegt, unterhält und weiß, was cool ist, anstatt danach wie viele seiner Mitbewerber nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen oder abgefahrenen Zügen hinterherzulaufen.
Auf Überteuerung setzt Supreme nur bedingt oder in Ausnahmefällen wie bei den spektakulären Collabos mit Louis Vuitton. Das Gefühl des Mangels wird bei Supreme im hohen Maße durch das Szenario des drops erzeugt. Man appelliert an der Instinkt von JägerInnen und SammlerInnen. Die Zielgruppe, die Supreme dabei erreicht, ist ein Phänotyp, den ich als „Mädchen-Jungen“ bezeichnen würde. Männliche Jugendliche, die sich seit einiger Zeit obsessiv mit der Bekleidung ihres Auftritts beschäftigen, von den Tücken der Mode aber etwas überfordert wirken und sich deshalb oft auf das sichere Terrain der uniformen Markenwelt zurückziehen. Der Mädchen-Junge kann zu einer Folgeerscheinung dessen gerechnet werden, was Nina Power als „Feminisierung von Arbeit“ beschrieben hat. Dies hat dazu geführt, dass „der Körper zum wichtigsten Ort der andauernden Werbung für sich wird“. Dadurch wurde das seit der Französischen Revolution vor allem feminin besetzte Terrain der Mode für Männer wieder zu einem zentraleren Thema. Einige Mädchen-Jungen „übererfüllen“ diese Herausforderung nun ins Groteske und verwandeln sich so in eine Art neoliberale Travestie der Hysterikerin. Man zieht sich so an, wie früher Mädchen zu Hause rumlungerten: trägt trumpfhosenartige Jogginghosen zu übergroßen Pullovern. Wobei dieser Look, der immer auch ein wenig so wirkt, als wollten seine Träger nicht erwachsen werden, nur von den coolsten Marken stammen darf und am besten von Supreme sein sollte.
Auf YouTube rechnen sich die Mädchen-Jungen in Videos ständig vor, wie viel ihre bevorzugt als „krank“ bezeichneten Outfits wert sind, was schon einmal in den vierstelligen Bereich gehen kann. Am Ende der vorgeführten Rechenaufgabe, zu der auch das „Hervorstrippen“ von Unterwäsche gehört und der Wert gerne hochgestapelt wird, steht die Frage des Moderators, „wer finanziert das?“. Die Antwort derer, die gerade auf offener Straße ihre Unterhosen aus der Hose gezogen haben, um „30 Euro“ zu sagen, lautet nie Arbeit. Dafür ist der Mädchen-Junge zu schlau. So einfach geht er als Hyperkonsument nicht in der kapitalistischen Logik auf. Die Antwort lautet schamlos oder vielleicht auch schamlos gelogen „Vater“, „YouTube-Geld“ oder „ich verdiene es mit der Money Gun“ – einem Gadget von Supreme, mit dem man Banknoten verballern kann.
Die Kaufwirklichkeit des Kapitalismus wird durch ihre Übererfüllung gespiegelt, das eigene Verhalten als genauso pathologisch wie die Objekte der Begierde bezeichnet – „kranke Outfits für kranke Leute“. Die Lohnarbeit wird dabei als listiger Knick in der Linse einfach ausgeblendet, so als gäbe es sie gar nicht. Arbeiten, warum? wozu? Wir wollen und können nur kaufen. Es sind die kleinen Monster, die die Verhältnisse, in die sie hineingeboren wurden, durch Übererfüllung in ihrer tatsächlichen Monstrosität spiegeln und ins Groteske verzerren: Elfjährige, die sagen, sie würden „Dries“ tragen. Das Ergebnis sieht gerade für jene Erwachsenen, die gerne beklagen, dass die jungen Leute heute nicht einmal mehr eine subversive Subkultur hinbekommen, schockierend aus. Und keine der sich für kapitalismuskritisch haltenden Analysen dieser Älteren bringt die Verhältnisse so genau auf den Punkt wie der HipHopper RIN in Liedern wie Doverstreet oder Blackout, wenn er singt: „Es ist zwölf Uhr, ich kauf mir Supreme.“ Alles ist egal, solange die Zirkulation von Waren und konsumistischen Kicks aufrechterhalten wird und sich dabei vom Drogenkonsum um keinen Deut unterscheidet.
Mit Mode im traditionellen Sinn hat Supreme bei all dem wenig zu tun. Supreme mutet seinen Käufern keine großen Schwankungen oder verstörenden Brüche zu. Alles bleibt immer ungefähr so, wie es war. Es geht gerade um die eindeutige Wiedererkennbarkeit. Supreme soll als Supreme identifizierbar bleiben. Die Identifizierbarkeit formt Verbindlichkeit, die mitteilt, „ich gehöre dazu“. Eine Strategie, die auf die eine oder andere Art fast alle großen Modelabels gegenwärtig anwenden. Oder wie die New York Times am 23. September 2017 anlässlich der Mailänder Modewoche in ihrer unnachahmlichen Art als die Tante unseres Vertrauens funkte: „Möglicherweise ist es das, was die Menschen jetzt wollen: die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die sich über eine Marke definiert, sei es die des Telefons, das sie benutzen, oder die der Kleider, welche sie tragen. Nachdem immer mehr traditionelle Gemeinschaften zusammenbrechen, ist dies fraglos zu einer Prämisse der Mode geworden.“
Der Wunsch, zur Supreme-Familie zu gehören, die den nächsten drop erwartet, oder zum uniformen Exaltismus, der von Alessandro Michele eingekleideten „Gucci-Nation“ oder je nach Geschmack auch „Gucci-Gang“, weil sich im auf Trennung gebauten Kapitalismus keine anderen Gemeinschaften bieten – darin liegt einer der Gründe für die Rückkehr zu den dick draufgeschriebenen Markenzeichen und einem Signatur-Style, der sich noch vor wenigen Jahren im Zuge von Normcore auf dem Höhepunkt der Unbeliebtheit bewegte. Allein das Markenzeichen in dicken Lettern reicht nicht. Marken müssen mehr Sicherheit liefern. Sie sollen sich nicht mehr groß verändern und den Schwankungen der Mode hingeben. Von ihnen wird Verstetigung erwartet, damit die Träger der Marken-Community sich möglichst nachhaltig und konstant erkennen können. Die Mode nähert sich dadurch stärker dem Charakter der Uniform an, während ihre abweichenden Züge so wie ihr instabiler Charakter in den Hintergrund treten.
Supreme beherrscht dieses Spiel der uniformen Mode meisterhaft. Das Skater-Label behauptet sich jeden Donnerstag neu und verändert sich seit 20 Jahren fast gar nicht. Damit es nicht zu langweilig wird, tut sich Supreme laufend mit anderen Marken zusammen, wofür der Begriff Collabo erfunden wurde. Die Erkennungszeichen der Label schieben sich dann ineinander: Ein Louis-Vuitton-Muster erstreckt sich über ein Skateboard, oder der Nike-Schuh kommt im knallfarbigen Retrokostüm daher. Supreme hat zwar die Collabos nicht erfunden, wirkt aber als Role Model der gegenwärtigen Collabo-Welle, die auf eine bestimmte Art eine Antimode ist. Aber auch das scheint Teil des globalen Erfolgs zu sein, dem es gelingt, einen Rest Streetcredibility zu bewahren.
Gegründet wurde das Skater-Label von James Jebbia mit einem Geschäft in der New Yorker Lafayette Street, das bis heute als Flagshipstore dient. Von Anfang an verwebte Supreme listig Authentizität mit Eklektizismus zu einem offensiven Umgang mit den Widersprüchen, die sich dabei immer wieder in Spiegelungen aufzulösen scheinen. Diese Strategie zeigt sich bereits im „Box-Logo“ des 1994 gegründeten Unternehmens. Der kursive Name in weißer Futura-Schrift steht in einem rechteckigen roten Kasten. Eins zu eins wird dabei die Grafik der US-Künstlerin Barbara Kruger, einer der wichtigsten Vertreterinnen der Appropriation Art, übernommen. Die Ästhetik der Aneignungskünstlerin wird selber aneignet. Krugers bekannteste Textarbeit, in der eine Hand nach dem Satz „I shop therefore I am“ (1987) greift, wird zum Erkennungszeichen einer veränderten Art des Shoppens: Supreme verbindet Krugers „Konsumkritik“ mit dem Versprechen, Teil einer Gemeinschaft zu werden.
Auf einem der ersten Supreme-T-Shirts wurde das Box-Logo auf ein Foto von Travis Bickle, dem Helden des Films Taxi Driver, montiert. Bickle ist das Inbild des einsamen Mannes im kapitalistischen Babylon New York, der am Ende gegen die falsche Welt Amok läuft. Bei Supreme umgibt den verlorenen Mann ein rettendes Gewebe. Um das Bild rankt sich ein gekritzeltes Netz aus über 100 händisch aufgetragenen Unterschriften von mit dem Label verbundenen Skatern. Genau dieses Versprechen, Teil einer authentischen Gemeinschaft zu werden, scheint der Schlüssel zum Erfolg. Kritik wird umgedeutet zu Marketing. An die Stelle von tradierter Gemeinschaft tritt das lose Gewebe derer, welche die gleiche Leidenschaft teilen, der Stamm der Skateboardfahrer, für die der Supreme-Laden, in den sie auf ihren Brettern einfach hineinfahren können, zum verbindenden Pol wird. Und draußen in der feindlichen Welt erkennt man sich an genau diesem Zeichen. Jedes Teil sieht nicht nur unzweifelhaft nach Supreme aus, es steht auch groß „Supreme“ drauf.