Heft 1/2018 - Asoziale Medien?


Wahrheit und Verleugnung

Die neue mediale Wirklichkeit und das Trauma der Liberalen

Olivier Jutel


Die Wahl Donald Trumps hat dem amerikanischen Liberalismus einen schweren psychischen Schlag versetzt. So lautete auch das zentrale Versprechen des Kandidaten Trump, und seine republikanische Wählerschaft würde einfach alles drangeben für den Genuss, den es bereitet, „die Liberalen zu provozieren“. Ein einmalig grotesker weißer und sexuell übergriffiger Suprematist sitzt nun auf dem Thron der Macht und gibt über Twitter Obszönitäten und belanglose persönliche Befindlichkeiten von sich. Nach einem chaotischen und inkompetenten ersten Amtsjahr hat Trump mit der jüngsten Steuerreform im Klassenkampf und in der Politik einen großen Sieg erzielt. Was die politische Krise der Liberalen betrifft, ist es jedoch bezeichnend, dass er in erster Linie wegen seiner Verstöße gegen Anstands- und Verfahrensregeln kritisiert wird. So waren beispielsweise die liberalen Medien und politische Eliten an dem Tag, an dem der republikanische Senat den wahr gewordenen Steuertraum der Milliardärsbrüder Charles und David Koch verkündete, primär damit beschäftigt, das Schuldbekenntnis des Sicherheitsberaters Michael Flynn und seine Kooperation im Rahmen der Russland-Ermittlungen von Robert Mueller zu feiern. Die Liberalen setzten auf den Patriotismus des Kalten Kriegs und auf Verschwörungstheorien hinsichtlich russischer Täuschungsmanöver anstelle einer dezidierten Klassenpolitik oder breit angelegter, rechtswirksamer Beschwerden, die es erlauben würden, Trumps libidinösen und ethnonationalistischen Lobgesängen auf die Größe Amerikas ein Ende zu bereiten. Mit dieser Kombination aus Wahnvorstellungen und politischem Verfahren versuchen die amerikanischen Liberalen, ein Wahrheitsregime zu retten, das dem Habitus der „Postpolitik“ entspricht.

Technokratischer Habitus
Angesichts des derzeitigen Flächenbrands ist es sinnvoller, den amerikanischen Liberalismus als kulturellen Habitus oder Affekt zu betrachten denn als konsistentes ethisch-politisches Projekt. Das kulturelle Betrauern des Abschieds von Barack Obama beruht nicht auf dem Gefühl eines großen ideologischen Projekts, das vereitelt wurde, sondern eher auf dem Verlust des „Gefühls“, das es den Liberalen bereitete, Barack und Michelle in der 1600 Pennsylvania Ave zu wissen. Die Würde des Amts war für Liberale nie größer als zu der Zeit, als die gemäßigte, professorale und historische Persönlichkeit Obamas an das bessere Selbst der US-AmerikanerInnen appellierte. Dieser Habitus vermeidet Ideologie zugunsten von Prozess, Kompromiss und dem Versprechen der Meritokratie. Zugleich sieht man darin eine transzendente Tugend, die als geeignet erscheint, politische Institutionen zu veredeln und das amerikanische Versprechen zu verwirklichen. Dieser einzigartige amerikanische und irreführende Optimismus vermischt sich leicht mit einem beißenden Zynismus gegenüber all jenen, die mittels Politik einen Wandel in der Gesellschaft herbeiführen wollen. Der Sozialismus von Sanders und der Faschismus von Trump gelten diesbezüglich als vergleichbare Übel. Es ist diese zynisch-wissende Haltung, welche die Mitglieder der technokratischen, kulturellen und sonstigen Führungselite kennzeichnet, die weiß, wie die Dinge „wirklich laufen“. Diese selbstzufriedene, aufgeklärte Klasse sieht sich als rationale „faktenbasierte Gemeinschaft“, die auf das von „leidenschaftlicher Intensität“ erfüllte Schlechteste hinunterstarrt, wie es der Dichter William Butler Yeats einmal ausgedrückt hat. Die Politik erfordert keinen antagonistischen ideologischen Kampf mehr, sondern lediglich das Eingreifen der Aufgeklärten, die ihre kritischen Fähigkeiten zur Problemlösung nutzen.
Das müde Ende der Geschichtspolitik hat seinen Höhepunkt und die vielleicht letzte Verkörperung in der Erhöhung des Silicon Valley als hegemoniales Ideal des Work & Play im Spätkapitalismus gefunden. Dem von Evgeny Morozov als „Techno-Solutionismus“ bezeichneten Versprechen zufolge nutzen ProgrammiererInnen, IngenieurInnen und VordenkerInnen Daten, um alle möglichen sozialen Probleme zu lösen. Die Realität besteht demgegenüber aus der Eingrenzung sozialer Gemeingüter, der politischen Einflussnahme in Form des sogenannten Rent-Seeking (einer Form von Lobbying), der Kannibalisierung anderer Sektoren, massenhafter Unrentabilität und einer Blase, die durch Geld aus den Golfstaaten und ideologische Investitionen des Kapitals aufgeblasen wird. Dieses faule Konstrukt war ein passender Avatar für die Zombie-Politik von Hillary Clinton, in der auch technologische Innovation und Daten im Kampf gegen Trumps Faschismus zum Einsatz kamen.
Clintons abgenutztes Pokémon Go-Wortspiel ist zu einem ikonischen Moment des Internethumors geworden, beinhaltete aber eine aufrichtige technolösungsorientierte Fragestellung: „Was wäre, wenn es eine App zur ‚Gamifizierung‘ der Demokratie gäbe, die ein atomisiertes technologisches Gemeinwesen mobilisieren könnte?“ Wie Slavoj Žižek bemerkt hat, sind die Möglichkeiten der Technologie scheinbar endlos und umgekehrt proportional zur Verkleinerung des politischen Spielraums für soziale Veränderungen. Das Allheilmittel für das Problem des neoliberalen Prekariats besteht in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (MINT), der Entwicklung immer neuer Apps und dem Erwerb von Programmierkompetenzen. Indem sie sich eines radikalen intersektionellen Diskurses bediente, gelang es Clinton sogar, das Thema der Gleichbehandlung ethnischer Gruppen in der Rubrik des „Techno-Solutionismus“ unterzubringen. In einer Grafik der Clinton-Kampagne wurden „komplexe intersektionelle Herausforderungen“ für die afroamerikanische Gemeinschaft dargestellt. Das Diagramm zeigte miteinander vernetzte Schlüsselbegriffe wie „Investitionen in Communities of Color“, „Verantwortliche Führung“ und „Zugang zu nahrhaften Lebensmitteln“. Dieser Rückgriff auf die Sozialwissenschaften im Stil von „TED-Talks“ beinhaltet eine vulgäre Verschmelzung von Intersektionalität mit Netzwerkdenken. Intersektionalität stellt nicht länger eine ethisch-politische Forderung nach Gerechtigkeit dar, sondern den Ruf nach „Lösungen und wirklichen Plänen“, als ob es bloß darum ginge, dass aufgeklärte TechnokratInnen ihre Brillanz endlich dieser Aufgabe widmeten.
Im algorithmischen Ansatz des Kampagnenmanagements von Robby Mook ging dieser Silicon-Valley-Fetischismus über reine Rhetorik hinaus. Mook brüstete sich im September 2016 gegenüber Politico damit, dass sich die Kampagne „fast ausschließlich“ auf den hellen Kopf des Datenchefs Elan Kriegel stütze. Daten waren der Schlüssel, um die schwerfällige politische Praxis des Schüttelns von Wählerhänden durch ökonomische, gezielte Werbeausgaben und eine kompakte, effiziente Kampagne an Orten wie Michigan und Wisconsin zu ersetzen. Die Kampagne präsentierte sich sehr selbstbewusst als Initiative von „IngenieurInnen und EntwicklerInnen, die lukrative Karrieren bei Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter aufgegeben haben, um mit ihrem Programmierwissen Clinton mehr Stimmen zu verschaffen“. Dies war sowohl die treibende Kraft der Clinton-Kampagne als auch ein wichtiger kultureller Marker des liberalen Habitus. Clintons Botschaft von Erfahrung und technokratischer Kompetenz, als „Progressive, die etwas bewegt“, wurde dadurch unterstrichen, dass sie sich auf die Besten und Klügsten verließ. Die Berufung auf liberalen Habitus und Kompetenz würde den rückwärtsgewandten politischen Antagonismus überwinden, wie ihn die chaotische und ungeschickte Kampagne von Trump vermittelte.
Das Trauma des Trump-Siegs besteht nun für die amerikanischen Liberalen nicht einfach in einer politischen Niederlage – sie haben Wege gefunden, die Niederlage gleichsam zu „genießen“, und zwar in Form eines allgegenwärtigen Humors im Daily Show-Stil, mit dem sie ihren Anspruch auf kulturelle Überlegenheit bekunden. Die materiellen Folgen von Trumps Sieg sind grässlich, doch die liberale Not dreht sich primär um das Ende postpolitischer Wahrheitsregime. Die Meritokratie hat Trump als obszönes Antlitz der Macht ausgespien, und das Internet, einst ein Instrument des vermeintlichen Endes der Geschichte, ist heute eine Domäne des Postfaktischen, der Verschwörung und der Jouissance. Während die Liberalen im Internet einen Raum für Zusammenarbeit, Innovation und wertvolle Datensammlungen sehen, verkörpert Trump die ökonomische und libidinöse Logik affektiver Medienproduktion. Die Trump-Kampagne sammelte nicht sorgfältig Daten und E-Mail-Adressen für Wahlaufrufe, ehrenamtliches Engagement und Spenden, sondern bediente sich des Internets in erster Linie als Ort brodelnder Konflikte und der Jouissance. Während Social-Media-Unternehmen kostenlose Arbeitskraft nutzen, um Daten zu extrahieren, sicherten der rücksichtslose Opportunismus und die vulgären Übertretungen, für die Trump steht, diesem eine loyale Gefolgschaft, die kostenlose Arbeit leistet, indem sie offen ihre Zuneigung bekundet, das Spektakel lautstarker Zusammenkünfte auf die Spitze treibt und dem Twitter-Hashtag #MAGA reale Bedeutung verleiht.
Das disruptive Potenzial des Internets und seiner sozialen Netze, einst Synonym für Occupy Wall Street und den Tahrir-Platz, wurde in der durch Trump propagierten weißen Vorherrschaft auf andere Weise zur Wirklichkeit. Zahlreiche intellektuelle Ressourcen, etwa von CyberenthusiastInnen wie Yochai Benkler, wurden der Betrachtung der Online-Konnektivität als Wiederbelebung öffentlicher und demokratischer Werte gewidmet. In der wissenschaftlichen Linken sind die Deleuz’sche Affekttheorie, das Rhizom und die Multitude zu Mitteln geworden, um flüchtige und emotional bedingte Online-Interaktionen optimistisch als Menschwerdung zu interpretieren. Die Überflüssigkeit von Online-Räumen, die universelle Wirkung einer kritisch-wissenden Haltung und die traumatische Begegnung mit „dem Anderen“ deuten jedoch ein Ende solcher Sichtweisen an bzw. das, was Jodi Dean als „Niedergang der symbolischen Effizienz“ bezeichnet.
Trumps Politik der obszönen Übertretung, der Viktimisierung und des Ethnonationalismus ist jedoch in der Lage, die Defekte des Diskursiven überhaupt zu umgehen. Online-Subkulturen haben Trump als Über-Ich der Jouissance entdeckt. Er gibt sich den gleichen Verschwörungstheorien, der gleichen Opferhaltung und dem gleichen Bombast hin wie ein durchschnittlicher shitposter, hat darüber hinaus aber eine gewaltige Macht. Dass er die sogenannten „gemäßigten RepublikanerInnen“ in den Hintergrund drängen konnte, bekräftigt das libidinöse Fundament des amerikanischen Konservatismus: das Verlangen, als außergewöhnliche, von unzähligen Feinden umzingelte Gruppe uneingeschränkte Macht auszuüben. Die Logik des Trollens ist beispielhaft für den Genuss und die libidinöse Aufladung der Trump-AnhängerInnen. Verschwörung, Besessenheit und die rücksichtslose Entmenschlichung des liberalen Feinds sind zur De-facto-Logik des rechten Flügels geworden, seien es die „Millennials“ der Alternative-Right-Bewegung oder die siebzigjährigen ZuschauerInnen von Fox News. Trumps AnhängerInnen genießen die unendliche Verschwörung, wie jüngst bei der Panik um den „Antifa-Bürgerkrieg am 4. November“, mit subjektiv-expressiven Diskursmethoden wie Videoblogs auf YouTube, die dazu dienen, aus dem Blauen einen allmächtigen Antifa-Feind zu konstruieren, um diesem dann gerechterweise mit dem Tode drohen zu können.
Diese Umrisse einer „postfaktischen“ Politik sind keine Anzeichen für eine Verzerrung in den Kommunikationsnetzen, die einer technologischen Problembehebung oder der Invasion eines fremden pathologischen Körpers bedarf, sondern Grundvoraussetzungen für die Nutzung affektiver digitaler Arbeit. Die Internetökonomien basieren auf Berühmtheiten und Megamarken wie Trump, wohlhabenden NutzerInnen, die als Ware gehandelt werden, und einem globalen Proletariat aus Content-ModeratorInnen, Klickfarm- und anderen digitalen ArbeiterInnen, die ihr Geld mit unzähligen Miniaufträgen verdienen. Fake News werden sowohl den libidinösen Motivationen von Trump-AnhängerInnen als auch den wirtschaftlichen Motiven mazedonischer Teenager gerecht, die für jeden Klick Bruchteile eines Cent erhalten. Dass der amerikanische Liberalismus seinen Habitus für universell und über diese materielle Politik hinausgehend hält, ist reine Ideologie. Im vergangenen Jahr kündigte Mark Zuckerberg als Reaktion auf die Rolle von Facebook in der amerikanischen Malaise und die Krise der Marke selbst eine „Listening Tour“ durch 50 US-Staaten an. Diese Selbstdarstellung als ernsthafter Philanthrop, motiviert vom Wunsch, Probleme zu lösen und Menschen durch Technologie zusammenzubringen, ist ebenso beruhigend für Liberale wie kurzsichtig. Während Zuckerberg soziale Verantwortung vortäuscht, äußert sich diese Fraktion der Klassenmacht weitaus deutlicher in Übermenschen wie Peter Thiel, Elon Musk oder Travis Kalanick, die den Niedergang bzw. die „Disruption“ kollektiver und öffentlicher Vorstellungen des Sozialen auf schamlose Weise beschleunigen.

Wiederherstellung der Wahrheit
Der Aufstieg von Donald Trump sollte eigentlich das Ende der Postpolitik darstellen, die nach ihren eigenen Maßstäben dramatisch gescheitert ist. Ein liberales Wahrheitsregime, das auf der kulturellen Autorität von ExpertInnen, rationalistischen Diskursen und der Fähigkeit politischer Institutionen beruht, diese Werte zu repräsentieren, existiert beim besten Willen nicht. Während die entscheidende Aufgabe im Augenblick darin zu bestehen scheint, eine linke Massenpolitik der Gerechtigkeit und Solidarität im Kampf gegen Trumps Faschismus zu schmieden, sind die amerikanischen Liberalen jedoch entschlossen, „ihr“ Wahrheitsregime wiederherzustellen. Trump wird nicht als Ausdruck bestimmter politischer Missstände in den USA gesehen, sondern als subversiver Agent, dem es gelingt, vom Kollaps der Wahrheit durch fremde Einmischung zu profitieren. In liberalen amerikanischen Kreisen herrscht mittlerweile die Erklärung vor, dass Wladimir Putin hinter dem steckt, was Hillary Clinton als „politisches 9/11“ bezeichnet – das „Hacking“ der Wahl und anderer politischer Prozesse. Nach 2016 wurden die intellektuellen Ressourcen liberaler Institutionen aus Medien, Thinktanks, der Demokratischen Partei und die Stimme von Morgan Freeman vorrangig der Aufdeckung dieses Komplotts gewidmet. Lässt man die Hysterie, die diese Darstellung hervorgerufen hat,1 beiseite, ist es aufschlussreich, darüber nachzudenken, wie diese neue Infrastruktur im Dienste der Wahrheit genau aussieht.
Der Begriff des „Wahl-Hackings“ verrät schon, wie technologische Metaphern des Sozialen dazu benutzt werden, eine gewisse technokratische Autorität zu retten und widerspenstige AkteurInnen, die sich jenseits normativer Grenzen bewegen, als gesellschaftliches Äquivalent von Schadprogrammen zu bezeichnen. Hacking hat natürlich eine spezifische Bedeutung, nämlich das Eindringen in Netzwerke, um in den Besitz von Daten bzw. Informationen für böswillige, politische, wirtschaftliche oder öffentliche Zwecke zu gelangen. Trotz dieser augenfälligen Metapher geht es in der Geschichte jedoch nur selten um echtes Hacken. Hysterische Schlagzeilen, die von geknackten Wahlsystemen und Stromnetzen berichteten, wurden inzwischen gründlich diskreditiert. Die Veröffentlichung von E-Mails des Democratic National Committee (DNC), die den weithin unterstellten Zynismus und die Korruption der Partei offenbarten, werden nicht als Hacking journalistischer Art, sondern als ernste Angelegenheit der nationalen Sicherheit betrachtet. Dass diese Veröffentlichung russischen HackerInnen zugeschrieben wurden, ist auf die Arbeit gewinnorientierter IT-Sicherheitsunternehmen wie CrowdStrike zurückzuführen, deren Analyse von Fehlern und schierem Selbstinteresse geprägt war.2 Selbst wenn man die Vorstellung eines Hackings durch Russland akzeptiert, reicht dieser Tatbestand bei Weitem nicht an jene Gewissheit heran, die Fachleute für Cybersicherheit ihr zuschreiben. Um die Unbestimmtheit von Cyberspionage und Online-Politik in dieser Hinsicht darzustellen, bedarf es einer Menge ideologischer Arbeit und des Vertrauens auf den nationalen Sicherheitsstaat als Vermittler der Wahrheit oder des Lacan’schen „Großen Anderen“ als symbolische Autorität. Im Anschluss an Octave Mannonis Definition der Verleugnung mag man die nationale Sicherheit als korrupt und manipulativ ansehen – dennoch geht es hier um „aktive Maßnahmen Russlands“.
Im Kontext der nationalen Sicherheit geführte Diskurse reproduzieren die Bilder einer Infektion des Staatskörpers aus den Zeiten des Kalten Kriegs und der Roten Angst. Deutlich wurde dies in den lächerlichen Äußerungen des Office of the Director of National Intelligence, der eigenständigen Behörde des Leiters aller 17 US-Geheimdienste. In einem Bericht zur Bewertung der russischen Einmischung vom Januar 2017 ging es fast ausschließlich um die seit 2015 nicht mehr existierende Sendung von Abby Martin bei RT America, in der „das gegenwärtige politische System der USA als korrupt und von Unternehmen beherrscht“ bezeichnet wurde. Der Harvard-Rechtsprofessor Cass Sunstein, ehemals in der Obama-Regierung tätig, sah in der Einmischung Russlands die Anwendung zeitloser „marxistischer Strategien“, um mittels Trump und Sanders das Gemeinwesen zu spalten, im Fall von Sanders gegen die „vermeintlich bösen“ Banken. Die mit dem Niedergang der Postpolitik einhergehende Angst und Ungewissheit könne dementsprechend auf die russische Unterwanderung sozialer Netzwerke durch als Waffe eingesetzte Meme und Trollfarmen zurückgeführt werden, mit der Absicht, Zweifel an den amerikanischen Institutionen zu säen. Hier liegt der Wahrheitsanspruch einfach in dem Affekt begründet, dass etwas nicht stimmt und es deswegen erlaubt ist, Kritik abzulehnen und wieder auf den liberalen Habitus einer zynisch-wissenden Haltung zu setzen.
In einer bizarren Umkehrung der Alt-Right-Vorstellung von „Meme Magic“ existiert inzwischen die Idee, durch das Trollen und „Triggern“ der eigenen Feinde könne eine echte Bewegung entstehen, im Zuge derer das politische Establishment seine existenzielle Angst besser in den Griff kriegt. So wurde Pokémon Go, einst Symbol für die Macht des Konnektiven, CNN zufolge angeblich dazu benutzt, „um rassische Spannungen auszunutzen und Zwietracht unter den Amerikanern zu säen“. In den nüchternen Räumlichkeiten des Geheimdienstausschusses des Senats wurde über Meme, Facebook-Anzeigen im Wert von 100.000 Dollar und eine unpolitische Facebook-Seite für Tierfreunde diskutiert, die, so spekulierte die New York Times, dazu gedacht war, „eine große Anhängerschaft aufzubauen, um dann nach und politische Inhalte einzuführen“. Bereitwillig haben Facebook und andere Technologieunternehmen Anzeigen verboten und die Gefahr des russischen Meme-Kriegs mit der Behauptung aufgeblasen, bis zu 126 Millionen amerikanische NutzerInnen hätten womöglich mit Russland in Verbindung stehende Postings gelesen. Die Monopole dieser Konzerne beruhen auf geringer Regulierung, abgesichert durch die kontinuierliche Verbreitung eines Tech-Utopismus, welcher der amerikanischen Projektion einer globalen soft power dienlich ist. Sie freuen sich, wenn sie die trügerische, auf Gutgläubigkeit beruhende digitale Freiheit gegen ein gesundes Bündnis mit dem Staat und weitere regulatorische Ausnahmeregelungen eintauschen können.
Aus dieser politischen Landschaft sind UnternehmerInnen hervorgegangen, die sich innerhalb des betreffenden Wahrheitsregimes bewegen und im Dienste seiner Interessen Karriere machen. Robby Mook etwa fand seinen Weg nach Harvard als Senior Fellow für das Defending Digital Democracy-Projekt, das die Demokratie in Partnerschaft mit moderaten RepublikanerInnen, Facebook und Google gegen zukünftige nebulöse Cyberbedrohungen absichern soll. Scheinbar fortschrittliche politische AkteurInnen haben diesem Narrativ zu einem Anstrich intellektueller und journalistischer Ernsthaftigkeit verholfen. Das Center for American Progress hat The Moscow Project ins Leben gerufen, und das Magazin, das den Namen der legendären sozialistischen Mother Jones trägt, hat sich mit der Plattform PutinTrump.org zusammengetan, in deren Logo das „P“ und das „T“ wie Hammer und Sichel aussehen. Twitter hat einer Reihe freiberuflicher „Russland-ExpertInnen“ und einer kritischen Masse von AnhängerInnen zum Aufstieg verholfen, die einen Krieg um die Wahrheit gegen „Putin-Bots“ und unwissentliche russische AgentInnen führen. Zentraler Policy-Entrepreneur und in den Worten von Slate der „Star“ in diesem Kampf um die Wahrheit ist Clint Watts.3 Watts sprach in seiner an Joseph McCarthy erinnernden Aussage vor dem Kongress von einem russischen „Drehbuch“ zur Herbeiführung von Uneinigkeit und Bürgerkrieg durch soziale Medien. Das Mittel, um die Waffen des russischen Cyberkriegs „zum Schweigen zu bringen“, bestünde in einem System staatlicher Wahrheitsevaluierung, von Watts auch „Nährwertkennzeichnung“ genannt. Wir haben auch schon erlebt, wie GesetzgeberInnen den Sender RT verbieten wollten oder zweifelhafte Gruppen wie PropOrNot Listen zusammenstellten, in denen linke JournalistInnen verleumdet wurden, und diese dann zustimmend in der Washington Post veröffentlicht wurden.
Das Klischee des „Orwell’schen“, das eigentlich um jeden Preis vermieden werden sollte, wird so immer unausweichlicher. Schließlich will sich dieses Expertenregime eines Wahrheitsbegriffs bedienen, der jede Reaktionsfähigkeit übersteigt und den Liberalismus von allen ihm noch gebliebenen Prinzipien befreit.

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

[1] Vgl. Olivier Jutel, Paranoia and Delusion: Liberalism’s Descent Into Cold War Fantasies, in: Overland, Nr. 228 (Frühjahr 2017); https://overland.org.au/previous-issues/issue-228/essay-olivier-jutel/.
[2] Vgl. Yasha Levine, From Russia, with Panic, in: The Baffler, Nr. 34 (März 2017); https://thebaffler.com/salvos/from-russia-with-panic-levine.
[3] Die Arbeit von Watts für das extrem rechte Foreign Policy Research Institute wurde von Max Blumenthal für das „Grayzone Project“ von Alternet brillant analysiert; https://www.alternet.org/grayzone-project/clint-watts-fake-russia-expert.