Heft 1/2019 - Artscribe


Abstraction as an Open Experiment

15. September 2018 bis 4. November 2018
Tallinna Kunstihoone / Tallinn

Text: Bettina Brunner


Tallinn. Abstraction as an Open Experiment in der Tallinna Kunstihoone (Kunsthalle Tallinn) brachte Malereien und Zeichnungen, Fotografien und Filme der Künstlerinnen Dóra Maurer, Zofia Kulik und Sirje Runge aus den 1970er-Jahren mit zwei Arbeiten Falke Pisanos der frühen 2000er-Jahre zusammen. Die Ausstellung stellte den ambitionierten Versuch dar, die wenig bekannten, zumeist abstrakten Malereien und Zeichnungen der estnischen Künstlerin Runge in die Kunstgeschichte der 1970er-Jahre – im Speziellen des ost- und zentraleuropäischen Raums – einzuschreiben und zugleich die Relevanz ebenjener historischen Praktiken im internationalen Kontext aktueller Kunstproduktion zu verdeutlichen.
Abstraction as an Open Experiment erstreckte sich über vier Räume im Obergeschoss der Tallinna Kunstihoone. Im Ausstellungsguide argumentierte die Kuratorin Mari Laanemets, dass Runges abstrakte Malerei als soziale Praxis zu verstehen und entgegen eines modernistischen Formalismus zu positionieren wäre. Dass es zwei der zentralen Begriffe des Ausstellungstitels – Offenheit und Experiment – ein wenig an theoretischer Schärfe mangelte, machte die gelungene Werkauswahl wieder wett. Denn Laanemets führte ihr Argument bereits im ersten Raum – gleich eines einführenden kuratorischen Statements – gekonnt vor, indem Arbeiten aller Künstlerinnen der Ausstellung in einen inhaltlich und formal überzeugenden Dialog traten.
Eine Auswahl aus Runges 17-teiliger Geometry-Serie (1976–77) abstrakter Malerei rahmte im Raum platzierte Monitore, in denen KwieKuliks Game on Morel’s Hill (Group Action) (1971/2006) und Maurers Creativity – Visuality (1975–77/1987) zu sehen waren: Dokumentationen von Aktionen, die Fragen sozialer und politischer Dynamiken mittels Handlungsanweisungen an Kleingruppen in den Blick nahmen. Im Sinne einer abstrakten Darstellung sozialer Interaktionen erinnerte Runges Geometry XI (1976), das serielle Dreiecke in Rot vor blauem Hintergrund zeigte, an das Spielfeld eines Brettspiels. Ähnlichkeiten zu zeitgleichen Arbeiten der amerikanischen Malerin Miyoko Ito mit ihren utopischen architektonischen Strukturen drängten sich ebenso auf wie zu Ericka Beckmans frühen Filmarbeiten wie etwa You the Better (1983). Das Zusammenspiel von Runges Malerei mit Maurers strukturellen Filmen Timing (1973/1980) und Proportions (1979) – als Projektionen am Anfang und Ende des Raums zu sehen –, die das Verhältnis geometrischer Formen und individueller Körperbewegungen ausloteten, ermöglichte, die grafische Präzision von Runges Darstellungen geometrischer Grundformen auf ihre körperliche und räumliche Qualität über den Bildraum hinaus zu befragen.
Pisanos und Benoît Maires Installation Organon (and the Audience Perception) (2008), die einen Großteil des ersten Raums einnahm, sollte zweifellos verdeutlichen, dass sowohl das Einbeziehen des Betrachterraums als auch ein offener Werkbegriff in aktuellen Kunstpraktiken zur Selbstverständlichkeit geworden waren und auf Entwicklungen der 1970er-Jahre zurückzuführen wären. Organon bestand aus fragilen Objekten, die über den Zeitraum der Ausstellung und auf losen Handlungsanweisungen der beiden KünstlerInnen basierend in unterschiedlichen Konstellationen auf mehreren Tischen arrangiert worden waren. Erschien Organon in der Ausstellung zwar nicht fehl am Platz, so war allerdings nur schwer nachvollziehbar, warum gerade die künstlerische Praxis Pisanos, die ebenso mit ihrer Videoarbeit Chillida (Forms and Feelings) (2006) vertreten war, exemplarisch für eine Aktualisierung historischer Fragestellungen einstehen sollte, zumal die ausgewählten Arbeiten auch allesamt bereits vor etwa zehn Jahren entstanden waren.
In den übrigen Räumen der Ausstellung gelang es der Kuratorin, jene losen Fäden zum Verhältnis von Körper, Kollektiv und Abstraktion wieder aufzugreifen, die der erste Raum aufgemacht hatte, sowie weitere Einblicke in Runges künstlerische Praxis und deren Beziehung zu den Arbeiten Kuliks und Maurers zu liefern. Die Fotoserie The Happening on the Former Lasnamäe Airfield (1974) – Aufnahmen des Architekten Jüri Okas – zeigte Runge gemeinsam mit einer lose organisierten Gruppe estnischer KünstlerInnen und ArchitektInnen, die vorhandene Gerüststrukturen im städtischen Brachland mit Toilettenpapier überzogen hatten. Die Ausstellung wies auf Parallelen zu der ebenfalls zu sehenden Fotoserie Legnica (1971/2018) von Zofia Kulik hin, die ausgehend von skulpturalen Interventionen in der gleichnamigen polnischen Stadt entstanden war. Ein ganzer Raum in Abstraction as an Open Experiment widmete sich Runges buntfarbigen utopisch-futuristischen Architekturzeichnungen für das Zentrum Tallinns, die 1975 als Abschlussarbeit ihres Studiums in Industriedesign an der estnischen Kunstuniversität entstanden waren. Fanden sich in Runges Entwürfen popkulturelle Referenzen wieder – so waren zum Beispiel die Worte „Bowie“ und „Zappa“ in die Darstellung eines komplexen Modulargerüsts eingefügt worden –, dann trug dies dazu bei, den Abstraktionsbegriff der Künstlerin als im realen Lebensalltag verwurzelt zu verstehen.
Abstraction as an Open Experiment gelang es, höchst überzeugend Runges Arbeiten über deren lokale Relevanz hinaus kunsthistorisch zu verorten. Blieben im Hinblick auf die Anknüpfung an aktuelle Kunstpraktiken viele Fragen offen, so erschien dies weniger als Schwachstelle der Ausstellung, sondern ließ vielmehr hoffen, dass ein Folgeprojekt der Kuratorin diesem Thema genauere Beachtung schenken würde.