Heft 4/2019 - Lektüre



Michel Foucault:

Die Geständnisse des Fleisches Sexualität und Wahrheit 4

Berlin (Suhrkamp) 2019 , S. 71 , EUR 36

Text: Gislind Nabakowski


Im Juni 1969 kam es im Stonewall Inn, Bar und Treffpunkt der Schwulen, Lesben und Transen in New Yorks Christopher Street, zur sechs Tage dauernden Revolte. Dem US-Staat und der Weltgesundheitsorganisation galten gleichgeschlechtliche Lieben als krank, strafrechtlich illegal und religiös verwerflich. Diese Menschen verloren Jobs. Sie waren auf Straßen der Gewalt ausgesetzt. Oft erhielten sie Wohnungen nicht. Als „medizinische Therapie“ galten Elektroschocks. Bei Razzien war Polizeigewalt die Norm. Betroffene schritten 1969 zur Gegenwehr und beteiligten sich an den Stonewall Riots: Ihr Kampf um Sichtbarkeit und Gleichberechtigung zeigte Erfolge. Sie wollten nicht länger geächtet sein.
Nur langsam jedoch wurden LGBTQ-Rechte als Menschenrechte geachtet. Erst 2019 entschuldigte sich der Polizeipräsident von NYC für die gewalttätigen Cops von 1969. Präsident Obama ehrte noch aus dem Weißen Haus heraus 2016 die Bar in Greenwich Village als Nationalmonument. Unter Präsident Trump geraten jedoch LGBTQ-Minderheitenrechte wieder unter Druck. In 70 Ländern von Afrika, Arabien und Asien sind sie noch verwehrt. Gleichgeschlechtlichen Beziehungen droht in mindestens 13 Ländern des Globus die Todesstrafe, die Liste faktischer Bedrohungen ist jedoch weitaus länger. In Deutschland gab es den sogenannten Homo-Verbotsparagrafen § 175 seit dem Kaiserreich (1871) bis 1994. Betroffene litten an Verleumdungen, Unrecht und Ängsten.
35 Jahre nach Michel Foucaults Tod (1926–84) erschien postum nun der vierte und letzte Band seiner groß angelegten Geschichte der Sexualität, einem – als Diskurs- und Machtanalyse – Meilenstein philosophischer Forschungen im 20. Jahrhundert. Auf mehr als 40.000 Manuskriptseiten, verteilt auf über 100 Kartons, erstrecken sich seine Notizen, Vorlesungen, Vorträge und Artikel dazu insgesamt. Der erste Band (deutsch Der Wille zum Wissen) erschien 1976, noch zu Lebzeiten (1984) veröffentlichte er Der Gebrauch der Lüste (Band zwei) und Die Sorge um sich (Band drei). Schließlich unterbrach er die Fertigstellung des letzten Bandes, als er am Collège de France und für die Universität Berkeley mit Der Mut zur Wahrheit ein weiteres Forschungsfeld eröffnete.1 Darin wehrte er sich vehement gegen den Ruf, ein (Post-)Strukturalist zu sein. Als Historiker fragt er, durch welche Kontrollen, Verbote, Maßnahmen und Zwänge menschliche Verhaltensweisen ausgebildet wurden. So regten etwa die frühen Kirchenväter mit ihren griechischen und lateinischen Abhandlungen zu „formgebenden Praktiken“ an. Ihre ethischen Diskussionen vom 2.–5. frühchristlichen Jahrhundert über das Geschlechtsleben stehen im Fokus des vierten Bandes. Foucault liest Texte von Clemens von Alexandrien, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomus, Johannes Cassianus und zuletzt Augustinus als Dokumente einer Sorge um das Seelenheil und als Zeugnisse der Herausbildung einer Moral sowie einer (damals neuen) Selbsterfahrung, die das Abendland fortan geprägt haben. Mehrfach benennt er, was als Tradition schon vor dem Christentum da war und in es einfloss. Er arbeitet dominante Erzählstränge, Kasuistiken und Modifizierungen der christlichen Lehre heraus. Auch Attribute der Pastoralmacht werden im Anhang differenziert erklärt.
Es ging diesen Kirchenvätern meist um hohe Werte, die auch schon in nicht christlichen Milieus Anerkennung fanden, wie den respektvollen Gebrauch der Lüste im Eheleben. Was war erlaubt, was verboten? Fleischeslüste ohne das Ziel, Nachkommen zu zeugen, waren im Enthaltsamkeitsgebot völlig geächtet. Auch Clemens von Alexandrien, der sich teilweise auf stoische bzw. römische Moralphilosophen berief, unterbreitete strenge Alltagsregeln, die zum unterwürfigen Handeln, zur Anerkennung der Omnipräsenz „des Logos“ führen sollten, um so „das ewige Leben“ zu erlangen. Die Natur, Philosophie und Gottes Wort waren Grundpfeiler, darüber hinaus wimmelte es in Clemens’ Paidagogos von kleinteiligen Vorkehrungen: Als Eheregeln wurden auch Gedanken von Aristoteles, Ärzten und Naturforschern benutzt. Zahlreiche Referenzen, Zitate, Beispiele und Aphorismen galten indes „dem Logos als Organisationsprinzip“, ihm waren sexuelle Beziehungen wie „einer Ökonomie“ hinzugefügt.
Foucault macht deutlich, durch welche Gebote und Regularien die Kirchenpatriarchen das Ehe- und Mönchsleben und das von „Jungfrauen“ ordneten, wobei sie ihren Ideen zur „Natur“ eine logische Ordnung entgegensetzten. Die Fähigkeit der Menschen, ihre Sexualität durch Varianz, Vielfalt und Abweichungen selbst auszugestalten, kam in ihren Texten nicht vor.
Foucaults Buch widmet der Virginität lange Kapitel: „Jungfräulichkeit“ war eine normative Klassifikation, auch eine „Kunst“ für außerhalb von Klöstern lebende, junge und unverheiratete Frauen oder Witwen, und meinte – über das Leben in Keuschheit hinaus – auch die von diesen Frauen praktizierte „reine“ Geisteshaltung. Zur Wahrung der Jungfräulichkeit forderte etwa Basilius, den Tastsinn möglichst „teilweise zu verschließen“, weil er für das Auslösen sexueller Wollüste der machtvollste sei. Auch das Gebot zur „Reinhaltung“ der Nachtträume oder geheimster Gedanken gab es. Der männlich-homoerotischen griechisch-römischen Moral wäre das nie eingefallen. Obligatorisch war Jungfräulichkeitsmystik dennoch nicht, vielmehr galt sie als Kunst, als positive Erfahrung – als Fügsamkeit, die Seele nicht mit Sexualisierung zu erschüttern. Kontrollierende Gewissensprüfungen wurden sodann auf das Mönchsleben ausgeweitet. Die christliche Sexualethik ersann mit ihrem Detailregelungsbedarf Verfügungen gegen das, was sie missbilligend als libidinöse Schlupfwinkel der Subjektwerdung ansah. Um die Phantasmagorien der „Versuchungen“ herum zentrierte sie schließlich die „Technologien des Selbst“ – was Foucault in seinen letzten Vorlesungen weiter ausführen sollte.

1 Vgl. Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin 1996 und Der Mut zur Wahrheit. Vorlesungen am Collège de France 1983/84. Berlin 2010.