Heft 4/2021 - Lektüre



Donatella Di Cesare:

Philosophie der Migration

Berlin (Matthes & Seitz)) 2021 , S. 73 , EUR 26

Text: Peter Kunitzky


Der lieben Dialektik willen gilt es manchmal, den Advocatus Diaboli zu spielen – so auch in diesem besonders unappetitlichen Fall. Denn natürlich widerstrebt es einem über die Maßen, so jemanden wie Alexander Lukaschenko vor Anwürfen in Schutz zu nehmen: einen Mann also, dessen politisches Sündenregister wirklich kaum eine Verfehlung ausspart (dreiste Wahlfälschung, die Ermordung von Oppositionellen, die gewaltsame Unterdrückung der Zivilgesellschaft etc.), sodass der ihm mancherwärts verliehene Titel „Letzter Diktator Europas“ dann doch durchaus adäquat anmutet. Aber ist es tatsächlich angemessen, angesichts seiner letzten maliziösen Volte, der Massierung von Fluchtwilligen an der polnischen Grenze zu, wie es in dem Zusammenhang auch heißt, erpresserischen Zwecken gleich von einem „hybriden Angriff“, gar einem „hybriden Krieg“ zu sprechen, auf welches Wording sich Europas Politiker*innen, gleich welcher Couleur, erstaunlich einhellig verständigt zu haben scheinen? Sehr wahrscheinlich nicht. Denn ganz abgesehen davon, dass hier arglose Menschen in völlig unzulässiger Weise mit Waffen oder Munition gleichgesetzt werden – wie wäre es eigentlich um die Verfassung bzw. die Verteidigungsfähigkeit der Europäischen Union, eines politischen Gebildes mit knapp 450 Millionen Einwohner*innen einschließlich vieler wohldotierter Armeen, bestellt, wenn sie sich tatsächlich von ein paar Tausend Migrant*innen bedroht fühlte? Trotzdem ist diese hochgerüstete Rhetorik natürlich ungemein aufschlussreich, verrät sie doch viel über die immunitäre Logik der Abschottung, die unser Denken und Handeln beherrscht; darüber, mit welcher Militanz wir, die Eingeborenen, europäischen Boden als unseren selbstverständlichen Besitz beanspruchen; darüber, wie wir, die Alteingesessenen, um Obdach bittende Fremde als gefährliche Eindringlinge betrachten, die uns unseren angestammten Platz streitig machen wollen. Kurzum: Angelegentlich dieser erneuten Krise wird wieder einmal die ganze Heuchelei ersichtlich, mit der wir, als die stolzen Begründer*innen und Bewahrer*innen der Menschrechte, dem Themenkomplex der Migration begegnen, wenn wir unseren diesbezüglichen Widerwillen nicht offen deklarieren, sondern das Problem – der Scheckbuchdiplomatie sei Dank – in Anrainerstaaten (Türkei, Libyen, vor Lukaschenkos Sinneswandel ja auch Weißrussland) auslagern; oder – der Gipfel der Bigotterie – vorgeben, die armen Migrant*innen den Fängen der schändlichen Schlepper*innen/Schleuser*innen/Menschenhändler*innen entreißen zu wollen, ohne dabei allerdings in Betracht zu ziehen, sie auch vor dem drohenden Untergang – und das ist in Hinsicht auf die Mittelmeerroute leider oft nur allzu buchstäblich gemeint – zu bewahren.
So tut nach Donatella Di Cesare, an Roms Sapienza lehrende Professorin für Philosophie, die bisher namentlich als Heidegger-Expertin hervorgetreten ist, zuallererst einmal ein Registerwechsel not, der das Problem der Migration aus dem Reich der Moral verweist und wieder in der politischen Sphäre ansiedelt. Auf dem Weg dahin wird von ihr aber nicht nur die politische Rhetorik dekonstruiert, sondern auch der philosophische Diskurs einer kompromisslosen Kritik unterzogen – jener Diskurs, der etwa mit Preisfragen wie: „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ (im Jahr 2015 gestellt von der deutschen Gesellschaft für Analytische Philosophie) den Gegenstand konsequent innerhalb der exklusiven Logik der Nation verhandelt, deren Prämissen derweil gänzlich unangetastet bleiben. Dabei erweist sich das routinierte Zusammenspiel von Begriffen wie Staat, Territorium und Grenze als keineswegs so selbstverständlich, wie das die Verfechter*innen einer restriktiven Einwanderungspolitik vermeinen; ein Zusammenspiel, das, kurz gefasst, darauf hinausläuft, dass eine souveräne Nation sich auf einem abgezirkelten Staatsgebiet gründet und ihre identitäre Integrität sowie ethnische Homogenität zu bewahren hat. Nur: Wie lässt sich der ärarische Besitzanspruch auf ein gewisses Territorium, den wir als Staatsbürger*innen notabene alle mittragen, im Grunde rechtfertigen? Und: Wie wäre, nur so zum Beispiel, eigentlich das österreichische Wesen zu fassen, das dann an einem übermäßigen Zustrom fremden Bluts Schaden nehmen oder dadurch gar verunreinigt würde? Wer feine Ohren hat, wird hier übrigens durchaus Anklänge an die unheilvolle Blut-&-Boden-Ideologie vernehmen, was aber alles andere als Zufall ist, waren die Nazis doch schließlich diejenigen, die sich wohl mit dem allergrößten Nachdruck ausbedingten, wen sie neben sich duldeten – und wen nicht.
Gegen diesen verbreiteten Unwillen zur Koexistenz, der in den modernen liberalen Demokratien „nur“ noch zu Diskriminierung – statt wie früher gleich zur Eliminierung – führt, bringt Di Cesare nun die Figur des „ansässigen Fremden“ in Stellung; eine Figur, die uns auf einer horizontalen (Raum-)Ebene daran erinnert, dass, dank der Globalisierung, die Begegnung mit Fremden ein mittlerweile geradezu alltägliches Phänomen beschreibt, während sie uns auf einer vertikalen (Zeit-)Ebene daran gemahnt, dass jeder Ort, den jemand in Beschlag nimmt, zuvor schon von vielen anderen okkupiert wurde und daher auch nicht wirklich reklamiert werden kann. Es ist dies also eine Figur, in der wir uns prinzipiell alle wiedererkennen sollten, während wir ihr, hierdurch einem seit der Antike heiligen Gebot folgend, praktisch Gastfreundschaft gewähren: allerdings nicht im Sinne eines temporären Besuchsrechts, sondern im Sinne eines permanenten Wohnrechts. Für eine Philosophin – ein wahrhaft frommer Gedanke!