Heft 4/2021 - Zeuge/Zeugin sein


Oswald Wiener 1935–2021

If it is worth being done, it is worth being done well Oswald Wiener, 5. Oktober 1935 bis 18. November 2021

Thomas Raab, November 2021


Der sagt: „Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt“: hat der nicht immerhin ein Sach, ein Ich, sie gestellt zu haben, eine Grammatik, einen Sinn, mit ihrer Hilfe an den Mann zu bringen, und, um diesen nicht auszulassen, einen Zuhörer, der solche Sätze auf sich wirken läßt?
O. Wiener, 0 (1981)

Seit Mitte 2018 unterschrieb mein Freund Oswald Wiener seine Mails und SMS mit „0.“ (Null.). Es war dies Ausdruck der unverzweifelten Einsicht, dass seine jahrzehntelange Arbeit als Erkenntnistheoretiker nun auch von den neuesten Einsichten der letzten Jahre her betrachtet noch nicht zu dem von ihm erhofften Durchbruch geführt hatte.
Es war nicht mehr die nihilistische Null des Aufsatzes 0, die, zuerst mit schwarzromantischer, dann mit dandyhafter Verve vorgetragen, viele literarische Leser*innen schauern ließ. Aber eben auch ahnen ließ, dass hier der Dichter der verbesserung von miteleuropa, roman seinen symbolischen Hammer auf das historisch „narrische Bandl“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hatte krachen lassen.
Denn das (institutionell) Unausgesprochene der Sozial- und Humanwissenschaften ist, dass die behavioristische Methode zur Steuerung von Mensch und Maschine hinreichen kann. Dazu muss nur die statistische Berechnung, mit der sie umgesetzt wird, technisch effektiv genug vonstattengehen. Die äußerliche Beobachtung, Messung und Korrelation menschlichen Tun und Lassens wird dabei allerdings durch Gewöhnung zusehends zu Erklärung und Definition des Menschlichen. Wir merken das an den Freund-Feind-Schemen in sozialen Krisen.
Gegen dieses statistische „Wegdefinieren“ des, ja, menschlichen Kerns, der eben im Verstehen, Orientieren und Ordnen der Umwelt besteht, ist Wiener abwechselnd kritisch affirmativ oder wissenschaftlich kritisierend vorgegangen. Das Schwanken zwischen Humanismus und Posthumanismus, der gerade wieder einmal modern zu werden aufhört, gab seiner Arbeit etwas tragisch Faustisches. Bis zuletzt war er, und nicht nur er, der Meinung, dass nur die von der akademischen Psychologie geschmähte, weil nicht streng intersubjektive Methode der Selbstbeobachtung anhand formaler, halbformaler und alltäglicher Probleme Ergebnisse wird liefern können, die das genannte definitorische Merkmal des Menschen klarer umreißen kann. Denn ohne diesen Umriss – ich scheue, es zu wiederholen – ist auch die Neurowissenschaft nicht mehr als „educated Schabernack“.
Dieser Einsatz, der bereits mit dem zweiten, produktiven Teil der verbesserung begann und zuerst den Namen Bio-Adapter trug, führte zuletzt zu dem von Thomas Eder und mir herausgegebenen Sammelband Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie, der 2015 bei Suhrkamp erschien und in dem jede*r Interessierte auch über 0. mehr erfahren wird als aus jeder biografischen Skizze.
Dass dieses Projekt bis heute am Rand des „öffentlichen Diskurses“ blieb, ist nicht einzig der einstigen Ungeduld und Abwehrhaltung Wieners gegen das „Persönliche“ dieses Diskurses geschuldet. Eine der Folgen des Versuchs, das Wesen der Wissenschaft nach innen zu verlegen, ist nämlich politisch: Nicht die Manipulation der Außenwelt, zu der auch das Verhalten gehört, sondern die Manipulation der eigenen Bedürfnisse (auch ohne Drogen, die ja ebenso äußerlich angewandt werden) wird dadurch zum Kern einer möglichen politischen Agenda.
Mit Freund*innen freut man sich. Oswald freute sich gerne. Am liebsten sprach, scherzte und argumentierte er in seinem großen Freundeskreis, der sich aus den Lebensstationen Wien, Berlin, Dawson City (Yukon) und der Steiermark speiste und den er mit seiner kongenialen und nicht weniger produktiven Ehefrau, der Künstlerin Ingrid Wiener, buchstäblich versorgte. „Sein Medium war die Entourage“, sagt mein Freund Cornell Schreiber – ein Kalauer zwar, aber in der Sach’ dennoch Grund genug, dass allzu viele schon zu seinen Lebzeiten seltsamerweise Informationen aus zweiter und dritter Hand (aka Wikipedia) bevorzugten, anstatt ihn einfach „anzumorsen“, wie er sich gerne ausdrückte. Oswald war jederzeit bereit, die Diskussion mit jedermann und jederfrau zu führen. Doch bevorzugten die meisten, wie es scheint, den Mythos dieses Mannes, den er – freilich aus praktischen Gründen – oft mitnährte. Allein dieser Mythos ist Weltliteratur.
Wenn man über 0. etwas Echtes schreiben will, sollte man daher, glaube ich, tunlichst nicht bei den bekannten Klischees, das heißt bei Historiografie, Genie und Anarchie beginnen. Welches Verhalten zeichnete den Mann abgesehen von den wuchtigen Selbstschutzroutinen, die ihn vielen unsympathisch machten, aus?
Mir fällt ein, wie begeistert er seine immer perfekt durchgearbeiteten Manuskripte an die wenigen engen Freund*innen schickte. Dabei wollte er, gewiss, auch Lob für die immer beträchtliche Leistung, aber vor allem anderen – Auseinandersetzung. Dass ich diese nicht immer „geschafft“ habe, tut mir heute zu spät leid, aber – das muss gesagt werden – Oswald war nicht unstreng, besonders wenn es um Argumente vor deren Veröffentlichung ging. Man konnte sich an ihm nicht „vorbeischummeln“, dazu war seine wohlwollende Neugier viel zu groß. Aber man musste bei der Sache bleiben. Für Spaß und Unterhaltung gab es immer ein Abendprogramm.
So „wachelte“ Oswald bis zur letzten Sekunde mit dem Wimpel der Aufklärung, der er nicht wenig Opfer brachte, besonders was Ruhm, Sicherheit und Familie anging. So wie Aufklärung und Kunst als Motoren von Fortschritt und Zerstörung zugleich verstanden werden können, ist auch Oswalds Bedeutung für die Kunst ambivalent. Ja, er sympathisierte mit den Wiener Aktionisten; ja, er arbeitete mit Dieter Roth; ja, er „performte“ (er mochte dieses Wort so gar nicht) „selten gehörte Musik“; ja, er tauschte sich täglich mit seiner großen Liebe Ingrid über „die Sache“ aus. Aber außer seinen Gesten wurde vom Umfeld der bildenden Kunst – und das erstaunt mich, da ich von vielen seiner Gedanken als Schriftsteller und als Wissenschaftler profitiert habe – kaum je mehr als coole Stichworte aufgenommen.
Doch ach! Genau dieses tiefere Aufnehmen machte Oswald ja so schwierig, da sein Denken, ganz Philosoph, immer auf die Genauigkeit der Definition zielte. Immer nahm er die Definitionen der anderen ernst und versuchte, sie für sich selbst und für den Erkenntnisgewinn zu explizieren. „If it’s worth to be done, it’s worth to be done well“, ein Diktum für alles, blieb seine Devise. Doch das macht ihn nicht leicht verständlich.
0 ist eines der wenigen Zeichen, das so unspezifisch ist, dass es in keiner Suchmaschine der Welt, heutig und zukünftig, brauchbare Ergebnisse liefert. Man muss es zum Gebrauche kontextualisieren und ihm damit Struktur geben. Das war Oswalds Kernidee und Sehnsucht: strukturieren und damit verschwinden für alle, die nicht nachdenken wollen – die blind tun und lassen und damit in der „großen Maschine Gesellschaft“ zwar genannt werden, aber dennoch im Formalismus untergehen.
Nun ist Oswald Wiener als Mensch und als Autor verschwunden. Er war bis zuletzt mit seinen Freund*innen und Mitstreiter*innen auf gedanklicher Ebene eng verbunden. Sein Tod wird merklich werden, wenn wir seinen Rat und seine unbändige Kraft suchen und er nicht wie sonst immer erreichbar sein wird.