Heft 3/2022 - Artscribe


Biennale Matter of Art 2022

21. Juli 2022 bis 30. Oktober 2022
Prague City Gallery, General University Hospital, Šaloun Studio / Prag

Text: Ada Karlbauer


Prag. Biennale Matter of Art. Ausgekerbte Territorien. Bücher brechen auseinander. Hysterische Textilien. Gesichter verdeckt von LED-Masken. Zweihändige Skulpturen überschreiben das eigene Spiegelbild. Animalische Dämonen führen die Bewegungen aus. Zuckerfäuste. Die Bilder drehen sich im Kreis. Loops auf Google Maps. Diese Vitrine, in der sich Erde sammelt. Geplünderte Objekte im Weg. Eine Schar von Krähen kreist um ein Auge. „Sickness Report“. Scheinbar fliegende Hologramme. Ein Märchen wird zum nächsten. Die Malereien wachsen über die Wände. Sister Outsider im Rotlicht. Verschlossene Türen. Der Versuch, herauszufinden, worum es geht. Rotwein aus Plastikbechern. Erst im Danach erkennt man, was bleibt. Der Blick streift vorbei, archiviert, durcheinander. Zurück zum Anfang. „What is life imagined in violence? In other words, how can we let the soft be soft? “, steht als Frage im Raum und über dem Programm. „While we have been taught that suffering will strengthen us or that a cure will end trauma, we propose an alternative task: nourishing our soft spots.“ In drei unterschiedlichen Locations, die innerhalb der Stadt verteilt stehen, findet die diesjährige Prag Biennale statt: Prague City Gallery, General University Hospital, Šaloun Studio. Es ist die zweite Ausgabe, Teil des Projects tranzit.cz/Biennale Matter of Art Center and Periphery: Cultural Deserts in Eastern Europe. Themen der Verletzlichkeit stehen im Zentrum der Auseinandersetzung. Die Gewalt, die an der Gegenwart ausgeübt wird, trägt lange Wurzeln, die nach hinten ragen, sich in der Geschichte verkeilen. Hinter den Krisen lauert die Vergangenheit, fletscht die Augen. Kollektive, neben individuellen Traumatas. Momente der Vulnerabilität. Positionen gegen die „großen“ Erzählungen oder möglicherweise Mythen der Zeit. Assoziative Erinnerungsfetzen, nach Locations geordnet. Nicht chronologisch.
Prague City Gallery. Nach einigen Treppen nach oben fällt der Blick direkt auf einen Banner, der sich nicht sofort als Arbeit zu erkennen gibt. Die Sprachbarriere steht im Weg, genauso wie im Fokus dieser Arbeit. Der QR-Code erzählt mehr. Jana Shostak hinterfragt in ihrem Sprachspiel den Begriff „refugee“, der gerade im Kontext des Ukraine-Kriegs an neuer Bedeutung gewann. Ein Vorschlag, die bestehenden Wörter zu ersetzen: NEWMAN/NOWAK/NOVAK, ein Homonym eines gängigen Nachnamens der Region. Im selben Raum metallene Manifestationen der schwedischen Künstlerin Hanni Kamala als Skizzen im Raum. Es handelt sich um eine Serie von Metallskulpturen, die als Gruppe den Raum belebt. Jeder dieser Körper ohne Fleisch steht für eine reale Persona, die Formen rassistischer und fremdenfeindlicher Gewalt ausgesetzt waren. Jenseits von bildhaften Darstellungen entstehen die eigentlichen Bilder zu den Körpern und Geschichten außerhalb der Objekte. Alternative Denkmäler als Knotenpunkt für die, die meist vergessen werden. Einige Räume reihen sich aneinander, schon nach dem zweiten fällt der Kopf kurz aus, wie das bei Biennalen so ist. Im nächsten Raum findet man die fragil anmutende Installation A Room Full of Hysterical Women von Larisa Crunteanu, die ebenfalls politische Körper durch die eigentliche Abwesenheit einer bildhaften Darstellung kennzeichnet. Die an einen Paravent erinnernden Displays wurden mit semitransparentem Stoff bespannt, fast wie Seiten. Darauf schreiben sich die Worte, findet man verschiedene Passagen von weiblichen Charakteren, die mit dem Begriff „Hysteria“ in Verbindung gebracht werden können, aus unterschiedlichen Zeiten und Genres. Die Zitate sind wütend. Von Aristophanes’ Komödie Lysistrata über Octavia E. Butlers Science-Fiction-Roman Wildseed bis hin zu Anne Sextons Selbstmordgedicht. Konturen von Figuren werden angedeutet, nicht nur durch Worte, sondern auch durch die feine Silhouette aus Stoff und architektonischen Plänen von Räumen, in denen die Worte gesprochen wurden und irgendwie gleich an Virgina Woolf denken lassen. Ein weiterer Blick fängt sich etwas später an einem Altar mit zwei grünen Augen, die den Raum abtasten, scannen. Jemand schaut zu, die Linsen in Bewegung. Die Installation von Patricia Dominguez mit dem Titel Green Irises versammelt Hologramme, Amulette, okkulte Gesten, Screens und Ikonen. Geister der Vorfahren werden hier im grellen Neonlicht beschworen. Davor kleine Sammlungen von getrockneten Zweigen, Steinen und Duftstäben. Ein Post-Internet-Altar. Mögliche Vergangenheiten kollidieren mit einer überstilisierten Gegenwart. Wieder ein paar Räume danach. Über diesen Boden wachsen Straßen, Wege und Kurven. Fast wie auf einem Spielbrett von Carcassonne formen sich Erinnerungen an irgendwelche Kinderzimmer von damals. Teppichboden und alles, was dazugehört. In jedem Kinderzimmer werden Märchen erzählt, auch hier. Das Audio-Piece umnelkine von Bára Šimková forumuliert ein modernes Märchen. Ein Moment des Innehaltens in einer Flut an Aussagen. Die klassische Sprache und stereotype Figurenkonstellation aus diesen Geschichten werden beibehalten, trotzdem aufgebrochen. Man hört über einen Zwerg, einen „old wise man“ und über einen „artist“, die Sprachen und Motive durchmischen sich. Ein modernes Märchen über eine alleinerziehende Künstlerin, die sich innerhalb des Systems behaupten muss. Immer wieder fällt das WLAN aus und damit das Verständnis. Die QR-Codes als unleserliche Rückstände an den bleichen Wänden. Im Kopf die wiederkehrende Frage: „Was würde bleiben, wenn die Ausstellungstexte gar nicht da wären?“
General University Hospital. Dieser Teil der Biennale erstreckt sich in einem Nebengebäude, das irgendwann einmal als zentrale Wäscherei diente, inzwischen aber keine Funktion mehr hat. Die Raumarchitektur des General University Hospital birgt noch eine Vielzahl an sichtbaren Rückständen der eigenen Vergangenheit, die für die Ausstellung nicht retuschiert wurden. Alte, gebrochene Fliesen und Wände. Einige großformatige Videoarbeiten, die sich über die alten Wände legen, zu viele, um sich jede im Detail anzusehen. Gleich zu Beginn wird die Aufmerksamkeit von der als Triptychon inszenierten Videoinstallation von Blue Ground (Anca Benera und Arnold Estefan) gefangen. Dokumentarische Bilder wechseln mit kurzen Voiceovers, formen eine Choreografie der Bilder. Eine Gegenüberstellung drei unterschiedlicher Orte: die namibische Wüste, der Atlantik und die Schwarzmeerküste in Rumänien. Ein Geflecht an transparenten Handelsketten liegt wie ein Schleier über den Orten, die gemeinsame Ressource: der Diamant. Die Arbeit untersucht jene verdeckten Muster, die geopolitischen Narrativen zugrunde liegen, unterhalb des Sichtbaren operieren. Landschaften, die durch Menschen geschaffen wurden, die Konstruktion von Grenzen sowie die Gestaltung und Markierung von Land durch Übernutzung von Ressourcen stehen im Zentrum dieser Auseinandersetzung. Mehrmals hingeschaut. Im Schatten der Videoarbeiten befindet sich ein Gewächshaus, das in ein dunkles Rot getauchte Licht erfüllt den kleinen Mikrokosmos. Nolan Oswald Dennis A Curriculum for Mud: Eroticeum beschäftigt sich mit politischen, wie auch spirituellen Systemen, die auf Landlosigkeit beruhen und den Theorien dazu. Der Mikrokosmos Gewächshaus steht für die Unmöglichkeit eines Außens, das Innen als Notwendigkeit. Man sieht eine Reihe von Kuppeln, in denen die Worte konserviert werden, LED-Lichter, die das Wachstum fördern. Aufgeschlagene Exemplare der tschechischen Übersetzung von Audre Lordes Sister Outsider von 1984, die durch Wildblumen aus dem südlichen Afrika kultiviert werden. Notizen zur Pflege und Aufrechterhaltung. Zu wenig Platz, um alles zu erzählen. Weiter.
Šaloun Studio. Etwas im Off befindet sich die letzte Location, die in ihrer Architektur an eine Miniatur der Secession erinnert. Von einem Garten ummantelt steht sie auf einer hügelartigen Anhöhe. 1911 wurde das Bildhaueratelier von Ladislav Šaloun nach eigenen Entwürfen gebaut. Bis heute steht es als exemplarisches Beispiel für Jugendstilarchitektur und die künstlerische Praxis von Šaloun selbst. Durch den hellen Raum bricht das Licht förmlich durch die Scheiben. Es hat 35 Grad. Der Sommer ist durch die Fenster gekrochen und hat sich im Raum verdichtet, sodass die Installation an körperlicher Intensität gewinnt. Transparente Objekte hängen in der Luft, sie sind aus Zucker, sie wirken so, als würden sie schweben oder im Fallen gefroren sein. Die Arbeit Mould Mix Melt Stir Break Pinch SUGAR Repeat von Robert Gabris und Ľuboš Kotlár verhandelt die politische Transformation von Zucker, dem weißen Gold, das eines der politisch aufgeladensten Ressourcen der postkolonialen Gegenwart darstellt. Als Repräsentanten der queeren Roma-Community stehen Themen um Hierarchien und Sexualität im Fokus der künstlerischen Praxis. Das Element Zucker wird zum theoretischen Ausgangspunkt und physischen Material der Installation. Die transparenten Objekte sind zu Fäusten geformt, als wären sie durch einen Umweg in die Institution eingedrungen, um das System von innen heraus zu reflektieren und zu hinterfragen. Mechanismen der Unterdrückung, Sklaverei, als Objekt der Begierde, genauso wie als Hauptursache für Krankheiten werden damit thematisiert. Auf den gegenüberliegenden Wänden findet man die Worte, ein Manifest, das über eine ganze Seitenwand wächst. „MATERIAL FOR COLLECTIVE IMAGINATION“ – durch die gekritzelte Art des Schreibens ebenso ephemer wie das Material Zucker. „To engage in this procedure, one must recover the tools engulfed in the sugary sculptures exhibited as part of the installation. We must scrape, crack, tear, lick, break, and digest piece by piece to have access to the tools of healing.“
Etwas später wiederbetrachtet zeigen die Arbeiten der diesjährigen Prag Biennale eine Vielzahl an imaginativen, fast verspielt anmutenden Ansätzen und Formulierungen, demgegenüber stehen vor allem deutlich dokumentarisch agierende Positionen, die sich mit Mechanismen der Macht beschäftigen, die oftmals unterhalb der Oberflächen agiert. Als zentrale Gemeinsamkeit lässt sich die Auseinandersetzung mit Geschichte und deren Auswirkung auf und innerhalb der Gegenwart erkennen und dem Pluralismus der Verhandlung dessen. Es sind viele Eindrücke, die man sammelt, manche bleiben, viele vergehen sofort wieder. „The bitterness of history is also history“, heißt es irgendwo und das bleibt im Kopf.