Hört eigentlich noch jemand zu? Nimmt das alles noch jemand wahr? Oder anders gefragt: Kann es gegenwärtig überhaupt noch so etwas wie ein tieferes Hineinhören in die uns umgebenden Materien geben – angesichts eines sich sozial-medial unentwegt verstärkenden Diskursgewimmels mit sich überschlagenden Botschaften des immer Gleichen oder bereits sattsam Bekannten?
Der Krisenmodus, in dem sich unsere (westlichen) Gesellschaften seit geraumer Zeit befinden, erleichtert das Hinhören-Können nicht unbedingt. Im Gegenteil: Der Alarmismus und (zivile) Ausnahmemodus, die das soziale und politische Geschehen aktuell dominieren, verhindern geradezu das Eingehen auf bzw. Offensein für anderes als vorgefasste Meinungen. Zuhören wird in diesem Zusammenhang zu einer nachgerade unmöglichen Aufgabe: ein Anrennen gegen algorithmisch sich verfestigende Mauern eines fortwährenden Gemurmels und Geraunes, dem kaum ein komplexeres Verständnis, egal wovon, abzuringen ist.
Phänomenologisch ist das mit dem Hören eine verzwickte Sache: Einerseits kann man die Ohren nicht willentlich verschließen; andererseits sind einem profunderen Hinhören – Stichwort „deep listening“ – gleichfalls physiologische Grenzen gesetzt. Nicht jede Frequenz, jeder Zwischenton, jeder Subtext, ist dem Ohr auf Anhieb zugänglich. Zwischen Weghören-Können und Aufhorchen-Müssen, gerade wenn Unfassbares geschieht, klafft die Vagheit einer adäquaten Rezeptionshaltung, für deren kritische Ausgestaltung erst die richtigen Mittel gefunden werden müssen. Die allseits verfügbaren Smartness-Technologien helfen dabei wenig, selbst wenn sie vorgeben, unsere Sensorien für die ganze Welt und alles Mögliche darüber hinaus zu öffnen. Zu befürchten bleibt, dass eingehendere Wahrnehmungsmodi gerade aufgrund ihrer zunehmend technologischen Formatierung im Subjektiven oder Individuellen immer weniger Verankerung finden.
Wahrnehmungsformen sind institutionell verschiedentlich verteilt und je nach Feld anders gewichtet. So stellte in der Welt der Kunst das Primat des Sehens bzw. des Visuellen lange Zeit eine unhinterfragte Grundannahme dar. Zwar wurde immer wieder Kritik am sogenannten Okularzentrismus oder, allgemeiner gefasst, der Errichtung unseres Weltbilds nach Maßgabe von unbewusst-optischen Koordinaten laut. Doch dieses Hinterfragen wurde, vor allem über den engeren Kontext der bildenden Kunst hinaus, nie wirklich konsequent vorangetrieben. Selten auch hat man die Art von Rezeptivität, die jedem Kunst- und Kulturverständnis unweigerlich zugrunde liegt, auf eine andere sinnliche Basis als die des Sehens zu verlagern versucht.
All das ist Grund genug, um nach den Bedingungen, ja der Notwendigkeit einer Kunst des Zuhörens zu fragen. Schließlich zeigt sich an vielen Konfliktzonen der Gegenwart, dass schlichtweg nicht mehr zugehört wird. Gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen sind zu einem Musterbeispiel partikularistischer oder sektiererischer Rechthaberei geworden. Das sozial-medial vernetzte Subjekt ist aller vermeintlichen Weltoffenheit zum Trotz überwiegend im Widerhall der eigenen Stimme gefangen. Und die im kulturellen Geschehen allseits propagierte Diversität erfährt dort einen wahren Härtetest, wo es darum geht, dem*den Anderen tatsächlich Gehör zu schenken. Wollte man eine Gemeinschaft des*der Heterogenen begründen, müssten erst einmal die Stimmen und sonstigen Bekundungen des Fremden und Nicht-Identischen zu vernehmen – wahr-zu-nehmen – versucht werden. Ohne von vornherein zu wissen, was der*die*das Andere kann, will, muss oder soll.
Zuhören, oder Zuhören-Lernen, als komplexe, gemeinschaftsbildende Praxis also: Diesem Versuchsszenario gehen die Beiträge dieser Ausgabe nach, von wahrnehmungstheoretisch-medialen Überlegungen bis hin zu der großen Frage, inwiefern sich im globalen Stimmengewirr Verständigungsmöglichkeiten (um nicht zu sagen Einverständnis) ausmachen lassen. Gerahmt ist der Thementeil von Auseinandersetzungen mit zwei besonders akuten Gewaltschauplätzen der Gegenwart. Eingangs hören wir in der von Hannah Jacobi zusammenstellten Gesprächsmontage, wie das momentane Geschehen in Iran aus der Sicht – und dem Hörbereich – fünf ausgewählter Kulturschaffender kommentiert wird. Unserer Fernwahrnehmung durch die Stimmen von Kriegs- und Gewalt-Betroffenen auf die Sprünge zu helfen versucht auch der abschließende Beitrag von Keti Chukhrov, worin die entscheidenden Phasen der putinistischen Machtübernahme im Hinblick auf das russische Kunst- und Kulturgetriebe rekapituliert werden.
Dazwischen eingebettet sind Essays und Interviews, die sich einer emanzipatorischen Theorie des Zuhörens widmen. Die Musikwissenschaftlerin Nina Sun Eidsheim macht diesbezüglich ein kollektives Moment geltend, das Hörkulturen mit den Strukturen von Bäumen und unterirdischen Pilznetzwerken vergleicht. In diverse Tierwelten hineinzuhören, um von dort her Korrektive unserer philosophischen Weltauffassung abzuleiten, hat sich Cord Riechelmann zur Aufgabe gemacht, wie er im Gespräch mit Pascal Jurt erläutert. Vibration und Klang anders zu denken als unserem herkömmlichen Musik- und Akustikverständnis entsprechend versuchen die Essays von Marcus Boon und Salomé Voegelin: Beide begreifen Klang als eine Art Portal zu erweiterten, multisensorischen Erfahrungsräumen. Ricarda Denzer schließlich setzt in ihrer Bild-Text-Montage Bausteine eines solch potenziell freieren Wahrnehmungsraums auf vielstimmige Weise zusammen.
Überschattet ist all das nach wie vor von den horrenden Geschehnissen keine 1.000 Kilometer von unserem Redaktionsort entfernt. „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden“, schrieb Ingeborg Bachmann vor 70 Jahren in ihrem Gedicht „Alle Tage“. Diesem Unerhörten in all seiner Komplexität und Mehrdeutigkeit nachzugehen stellt ein Hauptmotiv kritischer Gegenwartsanalyse dar. Mit dieser Ausgabe hoffen wir, es ein Stück weit fassbarer zur Sprache zu bringen.