Heft 1/2018 - Asoziale Medien?


Der Match

Lost and Found auf der Computermesse

Thomas Raab


Nachdem wir uns an der nahen Tankstelle noch zwei Dosenbiere genehmigt und uns dabei mit zwei Nach-der-Arbeit-Säufern über das Wort „vorglühen“ amüsiert hatten, tapsten wir endlich in Richtung Computermesse. Wie magisch zog uns der strahlende Messepalast an, wir konnten unsere Augen kaum abwenden. Jenny war natürlich routinierter als ich und also weniger fasziniert von den mattsilbernen Fringebooks, den glänzenden Servertürmen, Kühlaggregaten und xPhone-Plakaten, die durch die blank geputzten Scheiben des Messepalasts immer deutlicher kenntlich wurden. Jenny arbeitete für sie. Sie tüftelte an Algorithmen, die das Machine-Learning-Paradigma einer Partner-Matching-App verbesserten. Ihre Firma hieß Colorit.
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Der Pflichtbesuch auf der jährlichen Messe hatte sie im Vorhinein gelangweilt, weswegen sie sich vor einer Woche auf dem Konzert von Devendra eigens einen Künstlerfreund angelacht hatte, der sie diesmal durch diese Hölle begleiten sollte. Es war ein Vorgeschmack auf die Hölle, die uns alle erwartete, auch uns Künstler. Eine perfekte, wohlige Hölle, mit Longdrinks, Bier, Zigaretten und Drogen, so viel man wollte. Mit Spaß, Cybersex und mit Disco nach getaner Show. Und mit zu hellem Licht, zu blank geputzten Displays und zu viel Hetero-SM. Ihr Künstlerfreund war ich.
Die Qualität von Jennys neuem Algorithmus wurde an Menschen gemessen. Benchmark war eine Matching-Rate von mehr als 90 Prozent gemessen am Real-Life (das allerdings heruntergekommen war, wie ich fand). Jenny war eine der führenden Ingenieure gewesen, die das Verfahren von einem Suchen von Korrelationen zwischen den Datensätzen (Menschen) und multivariaten Methoden wie der Faktorenanalyse auf ein experimentelleres Machine-Learning-System umgestellt hatte. Dazu war sie eigens aus Kalifornien nach Berlin geholt worden.
Rechts!
Jedenfalls war Jenny gut. Etwas beduselt schwankten wir zwischen den Prospektstellagen, Hochglanzvitrinen und Verkaufsständen mit all den Gadgets hindurch in Richtung Buffet, vor dem, wie wir sahen, Zeitungsstände aufgestellt waren. Keine Mitarbeiter, keine Verteiler weit und breit. Wie hielten, um uns einen Überblick zu verschaffen. Interessanterweise entdeckte ich zwischen all den Network Raids und Computer Grafix auch einen Stapel der Kunstzeitschrift springerin, von der ich mir eine schnappte, bevor wir uns an die Stehtische im Buffetbereich begaben.
Während Jenny, nachdem sie sich ein Dos Equis bestellt hatte, hektisch den wogenden Horizont der besten Köpfe danach scannte, ob einer ihrer Chefs, die natürlich allesamt aus der Finanzbranche kamen, auftauchte, genehmigte ich mir einen Cuba Libre. Eigentlich gab ich wenig auf Drinks, sie waren zu teuer, und ich konnte Cola nicht einmal ohne Rum leiden. Aber hier, zwischen all den Programmierern, mittleren Managern, Technik-Groupies, Informatikern und USB-3.0-Kabel-Schnorrern hatte mich anscheinend das Bedürfnis gepackt, etwas Besonderes darzustellen – obwohl, nein, weil ich gerade ziemlich klamm war, was das Geld betraf. Aber vielleicht würde ja Jenny ...
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Typisch Künstler, dachte sie vielleicht, als ihr Blick meinen lächerlichen Longdrink streifte. Der Barkeeper in seiner albernen Catering-Uniform war bestimmt auch Künstler, denn jetzt schallte sogar ein Lied von Adam Green über das Messebuffet, das man, so gut es bei dieser Helligkeit ging, „gemütlich“ gestaltet hatte (Girlanden, Vintage-Sessel, Stehaschenbecher). I stumbled in all wide-eyed to the computer show, and followed you into every store, please tell me what I’m for. Während ich dem New Yorker Green lauschte, fiel mir ein, dass Jenny ihr Doktoratsstipendium vor ein paar Jahren am MIT konsumiert hatte. Bestimmt war sie ein Genie! Jedenfalls was Computer und Chefs anlangte. Aber hier und heute brauchte sie mich, Kreativität, weswegen sie mich ja aufgegabelt hatte.
Rechts!
Das Experimentelle an ihrem Algorithmus, erklärte sie mir, als wieder die übliche Muzak ertönte, war, dass dem Matching keine positiven Korrelationen zugrunde liegen. Sie nahm einen Schluck Dos Equis aus der Flasche. Da es sich um Machine Learning handelte, sei es auch nicht möglich, negative Korrelationen zu positiven Matches zu verrechnen. Das wäre mir ehrlich gesagt sogar als Künstler nicht sonderlich experimentell vorgekommen.
Plötzlich zuckte Jenny zusammen. Sie fixierte einen Weißrücken, der sich anschickte, mit der mittelalterlichen Frau in grauem Kostüm, die an seine Seite geschmiegt vielsagend lächelte, das Buffet anzusteuern. „Der große Investor“, flüsterte mir Jenny zu, während sie sich pseudointeressiert die Kunstzeitschrift schnappte und, den beiden abgewandt, durchzublättern begann.
Ich sah im Augenwinkel, dass Jenny auf einen Artikel mit dem Titel „Was das Herz will“ gestoßen war. Wie ich am Untertitel erhaschen konnte, ging es um die letzten Refugien des Menschlichen, die noch nicht durch KI und Big Data berechenbar waren. Das interessierte Jenny naturgemäß, da ihr experimenteller Algorithmus ja das Verlieben berechnen sollte, das immer noch als Headliner romantischer Unberechenbarkeit galt.
Rechts!
Auf dem Weg zum Buffet wurde der Weißrücken alsbald von einem Freund begrüßt und mitsamt der Kostümierten in eine der „Lanes“ mit den vielen kleineren Firmenständen gezogen. Ich vermutete, dass in dieser „Lane“ die hochriskante Innovation verkauft wurde.
Jenny atmete durch – doch wie man es auch sah, demnächst musste sie – mit mir dezent im Hintergrund – ihre Produktpräsentation durchziehen.
Worin bestand ihre Innovation?
Sie hatte als eine der Ersten erkannt, dass die alten Matching-Programme Ähnlichkeiten gefunden und daher Menschen narzisstisch gepaart hatten. Gerade so, hatte sie mit ihrer Erfahrung als 35-Jährige erkannt, könne man Liebe nicht berechnen. Diese bestünde aber auch nicht, wie sie mir sofort nach dem Konzert von Devendra erklärt hatte, aus dem Matchen von Gegensätzen, also gegensätzlichen Eigenschaften und äußeren Merkmalen wie Bildung, Vermögen, Aussehen und Stil. Eine Mischung aus positiven und negativen Korrelationen käme ebenso wenig in Betracht.
„Worin verlieben sich Menschen denn?“, hatte ich gefragt, nach Devendra.
Jenny legte die springerin auf den Stehtisch vor uns und trank ihr Dos Equis in einem Zug leer.
Rechts!
„Was ist Liebe?“, hatte ich insistiert, während es noch in meinen Ohren gepfiffen hatte. Allein das Gesprächsthema hatte dazu geführt, dass sie mir zu gefallen begann. Eigentlich ein faszinierender Mensch, war es durch meinen Kopf geschossen, und plötzlich hatten auch ihre Augen, die mir zuvor recht langweilig vorgekommen waren, gestrahlt.
„Das weiß ich doch nicht!“, hatte Jenny da ganz begeistert gerufen.
Rechts!
Ich war baff gewesen. Was für ein Mensch!
Derweil hatte Jenny stracks meine Hand ergriffen. Ihre hatte sich warm, frisch und gut angefühlt. Gebannt hatte ich ihr weiter zugehört, während mein Tinnitus langsam abklang – dort im Foyer nach Devendras Konzert, das uns im Grunde nicht gefallen hatte. Und für ein paar Sekunden hatte ich meine Kunst vergessen (Performance).
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„Wie meinst du?“, hatte ich verwirrt gefragt. „Du weißt nicht, was dein Algorithmus berechnet?“
„So ist es“, hatte sie sanft geantwortet, als spräche sie mit einem Rehlein. Wieso so sanft? Berechnete sie mich? Plötzlich war das Geheimnis Jenny mit allem, was dazugehört, groß vor mir gestanden. Plötzlich wollte ich wissen, wer ihre Eltern waren, was sie gerne aß, warum sie Computerwissenschaftlerin geworden war, welche YouTube-Kanäle sie bevorzugte, ob sie Santana mochte, sogar ihre Schuhgröße ...
„Wir nützen Erfahrungswerte! Dazu nehmen wir die erfolgreichen Matches aus der Vergangenheit und trainieren das neuronale Netz mit deep learning und support vector machines auf sie.“
Links! Links!
Mir war plötzlich heiß geworden und ich hatte meine Hand zurückgezogen. Was hatte sie damit sagen wollen? Die Unberechenbarkeit der Liebe als romantisches Postulat in einem neuronalen Netz umgesetzt?
Links!
Gedankenverloren konnte ich mein leeres Glas gerade noch auf dem Stehtisch neben ihre Flasche schieben, da hetzte ich ihr schon durch die Menge an Geeks, Zockern, Süchtigen und Investoren hinterher. Was für eine Frau! Natürlich faszinierte mich auch das Fremde, denn bisher war ich immer nur mit Künstlerinnen liiert gewesen und alleine deshalb glitzerte, so hatte ich jedenfalls nach dem Devendra-Konzert hilflos vermutet, Jenny für mich wie ein seltener blauer Edelstein.
Rechts!
Der Colorit-Stand war mitten an der zentralen Messe-Plaza gelegen und durch Halogenscheinwerfer von oben her hell erleuchtet. Als ich hinaufblinzelte, erkannte ich dahinter die Sterne am dunkelblauen Himmel aufgehen. Eine größere Menschenmenge hatte sich versammelt. Colorit galt als cooler Arbeitgeber mit lässiger knallblauer CI. Dennoch hatte ich diese Menge nicht erwartet. Bei der bloßen Annäherung an sie wurde mir ein wenig übel. Würde unser Coup klappen?
Als Jenny kurz vor mir die Menschentraube erreichte, bremste sie so abrupt ab, dass ich in ihren Rücken prallte. Sie drehte sich kurz um, lächelte und blinzelte mir zu. Mein Herz machte einen Sprung. War ich verliebt? Trotzdem dachte ich, ihr Zutrauen wäre weniger der Zuneigung als unserem Plan geschuldet.
Untertags hatten wir unsere Profile ins Colorit-Formular eingegeben, was einige Stunden gedauert hatte (die ich allerdings als Vorbereitung einer Performance verbuchen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen), und dann so lange getweakt, dass es Jennys Meinung nach auch live zu 99 Prozent einen Match zwischen uns geben müsste. Ich zweifelte, doch immerhin kannte sie ihren Algorithmus am besten ...
Schon hatte sie die kleine Bühne erklommen. In ihrem knallblauen Catsuit sah sie hinreißend aus – objektiv, meine ich, denn nicht nur meine sondern alle Augen klebten an ihr, als sie das Mikrofon nahm und zu sprechen begann. Mein Herz pochte wie wild, das Cola kam mir mitsamt Rumaroma hoch, und ich schloss kurz die Augen. Als ich mich wieder fassen konnte, sah ich Jenny in ein Headset sprechen und wie wild auf der Colorit-App ihres xPhones, die auf die große Leinwand hinter ihr übertragen wurde, herumwischen.
Die Unpassenden links, die Passenden rechts. Die Schlechten ins Kröpfchen, die Guten ins Töpfchen. Unter Letzteren würde der Algorithmus dann den passenden Partner „fürs Leben“ – mich! – herausfiltern. Ich müsste dann nicht mehr tun, als mich jubelnd zu melden, auf die Bühne gehen und Jenny um den Hals fallen. Nichts anderes wollte ich ohnehin! Und das seit unserem Abend bei Devendra, in dessen Folge ich nächtelang vor Sehnsucht wach gelegen war.
Links! Links! Links! Rechts! Links! Links! ...
Aha! Jenny wischte alle Fotos mit Hunden, Katzen, Pferden oder Blumen weg, ohne offenbar das Gesicht des Abgebildeten auch nur zu beachten.
Links! Links! Links! Links! Links! Links! Links! Links! Links! Links! Links! Rechts! Links! Links! Links! Links! Links! ...
Wie glaubhaft sie wirkte! Die Schlechten ins Töpfchen! Die Schlechten ins Töpfchen!
Da laut einer Studie fast alle Männer von Matching-Apps dazu neigen, so gut wie alles nach rechts ins Töpfchen zu swipen, musste man als Frau genau aufpassen, was man nach rechts wischte, denn das bedeutete, dass jeder Match-Mann mit so großen Erwartungen zum ersten Treffen kam, dass man Sex fast nicht ablehnen konnte, ohne wirklichen Ärger zu erzeugen, der sich wiederum in Dislikes auf Colorit niederschlug und dann via deren Mutterkonzerne Facebook und Google in die Bonitätsbewertung einging und die Karrierechancen drückte. Die Frauen wussten, dass dies die Männer wussten, die wiederum wussten, dass das die Frauen wussten usw. Ich hasste Matching-Apps, und ich hasste das Heteroklischee. Aber auch auf den LGBTQ-Plattformen war es nicht anders. Man erkannte ja, obwohl man es nicht sagen durfte, wer für die Mehrheit der Zielgruppe attraktiv war und wer nicht, und hatte daher dasselbe Problem wie jeder und jede andere. Man war halt Mensch.
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Jenny wischte so elegant und locker, dass einigen Nerds die Kinnlade herunterfiel. Mir wurde heiß von der Vorstellung, sie könnte meine neue Freundin werden.
Währenddessen erklärte sie souverän ein paar Details ihres Programms, und die Nerds nickten begeistert. Durch meinen Liebesrausch, der sich mit der Begeisterung aller „Dudes“ noch steigerte, drangen Worte wie Support Vector Machine, Kernelfunktion, separierbare Daten, Tensor Flow und Bayes-Netz an mich heran, aber ich konnte keine klare Vorstellung gewinnen, das Bild des Algorithmus verschwamm mit dem Bild Jennys, ich verstand kein Wort mehr, mein Tinnitus brauste plötzlich auf, Crescendo, Jenny Gesicht strahlte immer heller in den ohnehin hell strahlenden Deckenleuchten der als Ganzes halogenisierten Messehalle...
Rechts!
Da! Jennys Algorithmus hatte etwas errechnet, was bekanntermaßen durch ein grün blinkendes Display kundgetan wurde, das riesig auf die Leinwand über unserer aller Köpfe übertragen wurde. Grün! Alle hielten den Atem an. Grün! In wenigen Augenblicken würde das Blinken enden und mein Gesicht erscheinen!
Rechts!
Da kam das Foto!
Aber es war das Foto Jennys!
Die Leute johlten, wohl weil sie naturgemäß dachten, die Firma Colorit hätte, ihrem Unternehmensprofil und der Corporate Identity entsprechend, mit Ironie punkten wollen. Triebabfuhr.
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Jenny war, wie ich an ihrem zuckenden rechten Augenlid sehen konnte, aufgelöst. Sie hatte versagt. Was würden die Chefs in den hinteren Reihen, was würden die Investoren denken?
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Erst langsam dräute es mir: Wir hatten versagt! Ich konnte nicht mehr klar denken und fischte mein xPhone aus der Hosentasche, um die Peinlichkeit und den beginnenden Schmerz mit dem Bedienen irgendeiner App zu überbrücken. Performativ sozusagen.
Ich wischte so lange, bis auch ich mich matchte ...